Nach dem Kampf um Lützerath: Gegenseitige Anfeindungen

Nach der Schlammschlacht um das verlassene Dorf Lützerath kämpfen verschiedene Seiten um die Deutungshoheit der zuweilen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Klimaaktivisten.
Titelbild
Berittene Polizei kontra Kohlegegner bei Lützerath (NRW) am 14. Januar 2023.Foto: über dts Nachrichtenagentur
Von 17. Januar 2023

102 verletzte Polizisten, rund 200 Anzeigen gegen Besetzer und Demonstranten – das ist die vorläufige Bilanz der Lützerath-Räumung aus Sicht des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU).

Viele der behandlungsbedürftigen Polizisten seien allerdings nicht „in Auseinandersetzungen verletzt“ worden, sondern aufgrund der örtlichen Gegebenheiten, sagte Reul im Gespräch mit „Bild“. Womöglich spielte er damit auch den Kampf mit dem schlammigen Boden an: In den sozialen Netzwerken kursieren Videos, in denen beinahe knietief im Morast versunkene Einsatzkräfte große Schwierigkeiten hatten, sich aus eigener Kraft zu befreien [Beispiel-Video bei Twitter].

Reul: „Vorwürfe muss man belegen“

Die Liste der Straftaten von Seiten der zum Teil vermummten Polizeigegner umfasst laut Reul unter anderem Körperverletzung, Widerstand, Landfriedensbruch und Diebstahl. Der Großteil der Demonstranten sei aber friedlich geblieben, räumte Reul gegenüber der „Bild“ ein.

Nicht zu den ganz Friedlichen habe Luisa Neubauer gehört, die wohl prominenteste Aktivistin der deutschen „Fridays for Future“-Bewegung. Neubauer sei „gegen die Absprachen zwischen Demo-Leitung und Polizei […] mit nach vorne marschiert“, sagte Reul. Sie schade damit dem „Ansehen des Klimaschutzes“. Um dafür zu werben, müsse man „keine Straftaten begehen“.

Christiane Hoffmann, stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung, pflichtete ihm bei: „Diese Grenze wurde in Lützerath überschritten, und das verurteilen wir auch ausdrücklich“, so Hofmann laut RTL.

Polizei will Vorwürfen nachgehen

NRW-Innenminister Reul wehrte sich gegen Vorwürfe, nach denen die Polizei unverhältnismäßige Gewalt angewendet haben soll: „Ich bin nicht bereit, diese pauschalen, unbelegten Schilderungen zu akzeptieren, die von Kopfschlägen gegen Demonstranten handeln. Diese Vorwürfe muss man belegen“, forderte Reul.

Es sei „unredlich, allgemeine Vorwürfe gegen Polizisten zu erheben, um Stimmung gegen die Polizei zu machen“. Sollte es doch Fälle unangemessener Polizeigewalt gegeben haben, werde er sie untersuchen lassen, versprach Reul.

Polizeisprecher Andreas Müller kündigte nach Angaben des „Deutschlandfunks“ ebenfalls an, den Gewaltvorwürfen nachzugehen zu wollen: „Ich kann versichern, dass wir nach diesem Einsatz diese Situationen sicherlich noch mal analysieren und prüfen werden und dass dann auch gegebenenfalls Strafverfahren eingeleitet werden und zwar gegen Kollegen.“

Reul kritisierte auch den „Westdeutschen Rundfunk“ (WDR), weil dieser am Sonntag eine unkommentierte Live-Schalte zu einer Pressekonferenz von Besetzern im nahen Protestcamp Keyenberg gesendet hatte: „Der WDR gefährdet sein Ansehen, wenn er eine radikale Gruppe 50 Minuten live überträgt“, so Reul.

Ende Gelände: „krasse Eskalation von Polizeigewalt“

Luca Scott, Sprecherin der Aktivistengruppe „Ende Gelände“, hatte von einer „krasse[n] Eskalation von Polizeigewalt“ gesprochen, weil die Polizisten am Räumungswochenende Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt hatten: „Es hat sich deutlich gezeigt, wie der Staat durchgreift, wenn es darum geht, Profitinteressen zu schützen“, so Scotts Einschätzung nach einem Bericht von „Zeit online“.

Allein an jenem Samstag habe es „um die 120 Verletzte“ unter den Demonstranten gegeben, sagte ein Sprecher der Gruppe „Lützerath lebt“. Die aufseiten der Demonstranten stehende Sanitäterin Iza Hofmann hatte noch am Montag im WDR von einigen „potenziell lebensgefährlich“ Verletzten unter den Aktivisten berichtet. Dies hat sich nach Recherchen des „Deutschlandfunk“-Reporters Felix Wessel allerdings nicht bestätigt.

Während des gesamten tagelangen Widerstands sollen rund 300 Kohlekraftgegner verletzt worden sein, schreibt „Zeit online“. Die Polizei habe „neun Aktivisten und Aktivistinnen“ gezählt, die „mit Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht“ werden mussten, berichtet das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND). Zudem seien zwölf Störer festgenommen oder in Gewahrsam verbracht worden.

Neubauer: „friedlicher“ Protest

„Friday for Future“-Aktivistin Luisa Neubauer hatte am Sonntagabend in der ARD-Talkshow „Anne Will“ einen „unverhältnismäßig gewalttätigen Einsatz“ der Polizei angeprangert, der „in keiner Weise professionell“ ausgesehen hätte. Der Protest von Lützerath sei „friedlich“ gewesen, so Neubauer. Die Aktivistin ist mittlerweile ins schweizerische Davos gereist, um als Ehrengast beim Jahrestreffen des World Economic Forum teilzunehmen.

Einige Video-Eindrücke zu den Vorkommnissen von Lützerath:

„Fridays for Future“ vs. Grüne

Greta Thunberg, die schwedische Begründerin der „Fridays for Future“-Bewegung, hatte nach ihrem Lützerath-Besuch die Grünen bei „Anne Will“ kritisiert, weil diese im NRW-Parlament zugestimmt hatten, das Dorf abzureißen und Kohle zu fördern – nun aber auf der Seite der vermeintlichen Lützerath-Schützer aufgetreten seien. Dies sei „heuchlerisch“, meinte Thunberg.

Ricarda Lang, die Co-Parteichefin der Grünen, verteidigte ebenfalls bei „Anne Will“ den Standpunkt ihrer Partei: Wenn die Grünen „nichts getan hätten“, dann hätte dies bedeutet, dass „Lützerath und fünf weitere Dörfer, in denen 500 weitere Menschen noch leben, abgebaggert werden“. Dass überhaupt Kohle abgebaut werden müsse, sei der aktuellen Energieversorgungslage wegen des „Angriffskriegs Putins“ geschuldet, hatte Lang bereits vor einer Woche bei der Vorstandsklausur der Grünen in Berlin erklärt [Kurzvideo dazu beim ZDF].

Sarah-Lee Heinrich, die Bundesvorsitzende der Grünen Jugend, glaubt dagegen nicht, dass die Kohle unter Lützerath für die Versorgungssicherheit gebraucht werde. Wichtiger sei es, die Klimaziele nicht durch zu viel CO₂-Ausstoß zu gefährden, so Heinrich im „ZDF-Morgenmagazin“.

Tagelange Auseinandersetzungen

Zwischen dem 11. und 16. Januar 2023 hatte es in dem von den ursprünglichen Bewohnern schon lange verlassenen Weiler Lützerath/Erkelenz unweit von Mönchengladbach tagelang teils gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Klimaaktivisten gegeben.

Verschiedenen Angaben zufolge sollen sich zwischen 15.000 und 35.000 Menschen auf dem Gelände aufgehalten haben, berichtet der „Deutschlandfunk“. Im Lauf des 16. Januar waren das Dorf von den letzten Besetzern geräumt worden, die sich zum Teil schon Wochen vorher in den leer stehenden Gebäuden, in Baumhäusern, Wohnwagen und Zelten eingerichtet hatten. Die Abrissarbeiten der Häuser liefen teils parallel.

Auch die letzten beiden noch am Sonntag ausharrende Aktivisten, die sich in einem selbst gegrabenen Tunnel unter den Gebäuden verschanzt hatten, wurden inzwischen herausgeholt. Wann der Kohleabbau unter Lützerath für den Braunkohle-Tagebau Garzweiler II des Energiekonzerns RWE beginnen kann, ist derzeit noch unklar.

Umstrittener RWE-Deal

Die nordrhein-westfälische schwarz-grüne Landesregierung hatte dem Abriss des Weilers zugestimmt – gegen großen Widerstand aus der Parteibasis. Die Entscheidung gehört zu einem Kompromiss, den Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (beide Grüne) Anfang Oktober 2022 mit dem Energiekonzern RWE geschlossen hatten.

RWE verpflichtete sich dafür, bereits im Jahr 2030 und nicht wie ursprünglich geplant erst 2038 aus der Kohle auszusteigen. Ungeachtet dieses Deals darf bundesweit noch bis 2038 an anderen Standorten Kohle abgebaut werden.

[Mit Informationen von Agenturen]



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion