Was kostet eine CO₂-neutrale Energieversorgung?

Auf dem Weg zur CO₂-neutralen Energieversorgung können verschiedene Pfade eingeschlagen werden. Aber welche davon sind realistisch umsetzbar? Welche Energiespeicher sind nötig und was kostet das alles? Forscher um Andreas Züttel haben für die Schweiz eine „fundierte Vergleichsrechnung“ aufgestellt: Demzufolge hat die Schweiz nicht genug Dächer für Solaranlagen – und zu wenig Berge für Stauseen oder Wasserstoff-Tunnel.
Solaranlage auf einem traditionellen Schweizer Chalet für die unabhängige Energieversorgung
Solaranlage auf einem traditionellen Schweizer Chalet.Foto: iStock
Von 1. März 2022

Bis 2050 soll die Schweiz klimaneutral werden, so lautet ein Beschluss des Bundesrates vom August 2019, der als langfristige Klimastrategie im Januar 2021 verabschiedet wurde. Deutschland möchte dieses Ziel bereits fünf Jahre eher erreichen. Doch was bedeutet das in der Praxis? Auf welchem Wege sind diese Ziele erreichbar, was braucht es dazu und was kostet eine solche Energieversorgung?

Mit diesen Fragen beschäftigten sich Forscher um Andras Züttel der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne. Gemeinsam mit dem ehemaligen Direktor der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) Louis Schlapbach und weiteren Kollegen hat Züttel eine detaillierte Rechnung angestellt und nach Antworten auf diese Fragen der Energiewende gesucht. Ihre Studie erschien Anfang Februar in der Fachzeitschrift „Frontiers in Energy Research“.

Energieversorgung der Zukunft: elektrisch, Wasserstoff oder E-Fuels?

Die Forscher rechneten drei verschiedene Szenarien durch: Elektrifizierung, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe. Anschließend verglichen sie diese mit den heutigen Energiekosten von jährlich rund 3.000 Franken (ca. 2.880 Euro) pro Einwohner. „Energie“ umfasst in diesem Fall neben dem Strom aus der Steckdose weitere Energieformen, einschließlich Autofahren (Kraftstoffe) und Heizen (Gas, Fernwärme …).

In allen drei Szenarien rechneten die Forscher fest mit dem Abschalten der Schweizer Atomkraftwerke bis 2050. Allein das Ersetzten dieser Kraftwerke erfordere Solaranlagen auf einer Dachfläche von 16 Quadratmetern – pro Kopf der Schweizer Bevölkerung. Für jeden Einwohner brauche es zudem eine Batterie von 9 Kilowattstunden (kWh), um den tagsüber geernteten Solarstrom für die Nacht zu speichern.

Zusätzlich sind vier Pumpspeicherkraftwerke von der Größe des Kraftwerkes „Grande Dixence“ im Kanton Wallis nötig, um den Sommerstrom für den Winter zu speichern, so die Forscher weiter. Diese Grundannahmen gelten für jedes Szenario. Die Leistung des Kraftwerks entspricht mit knapp 1,3 GW ungefähr der eines Kernkraftwerks. Zudem könnte sie nach älteren Aussagen des Betreibers „innerhalb von nur drei Minuten dem Netz zur Verfügung gestellt werden“.

Jedes Jahr einen neuen Staudamm

Aus rein energetischer Sicht sei es am effizientesten, die gesamte Energieversorgung zu elektrifizieren, sagt Andreas Züttel. Wenn alle Autos und Lastwagen elektrisch fahren und alle Gebäude mit (elektrischen) Wärmepumpen beheizt würden, steigt der dafür notwendige Strombedarf nur um knapp 1.000 Watt pro Kopf – gegenüber dem heutigen elektrischen Energieverbrauch. Um diese Energiemenge zu erzeugen, bräuchte die Schweiz 48 m² Solarfläche pro Kopf. Das entspricht etwas mehr als der durchschnittlichen Wohnfläche pro Kopf von 46 m² und etwa dreimal der verfügbaren Dachfläche der Schweiz.

Zusätzlich benötige jeder Einwohner 26 kWh Batteriespeicher, um Tag und Nacht auszugleichen. Zur Sommer-Winter-Speicherung brauchen die Schweizer zusätzlich 13 Pumpspeicherkraftwerke der Dimension „Grande Dixence“. Energieforscher Züttel rechnet vor:

Wenn wir sofort anfangen, müssten wir bis ins Jahr 2035 jedes Jahr eine neue Staumauer bauen. Aber wir haben schlicht nicht genug geeignete Täler im Land für solch eine Größenordnung.“

Ein reiner Batteriespeicher um Sommer und Winter auszugleichen, würde 30.000 Franken kosten. Pro Kopf.

25 Gotthard-Tunnel voller Wasserstoff

Die zweite Möglichkeit wäre eine Wasserstoffwirtschaft. Dann könnte man mit Wasserstoff Autos, Lastwagen und Busse antreiben und mit katalytischen Brennern alle Gebäude beheizen. Klimaneutraler Wasserstoff wird jedoch aus Strom erzeugt und bei der Umwandlung geht ein Teil der Energie verloren. Für Szenario 2 bräuchte man daher 116 Quadratmeter Solarflächen pro Kopf – und eine Tag-Nacht-Speicherbatterie von 57 kWh pro Kopf.

Neue Stauseen bräuchte es für diese Variante nicht. Der im Sommer erzeugte Wasserstoff müsste jedoch bei 200 bar Druck gespeichert werden, beispielsweise in unterirdischen Kavernen. Aber:

Wir bräuchten ein Speichervolumen von 57 Millionen Kubikmetern – das ist etwa 25 Mal der Gotthard-Basistunnel.“

Außerdem, so Züttel weiter, würden die Energiekosten für diese Variante um rund 50 Prozent steigen. Das entspricht einem Anstieg von heute 3.000 Franken auf rund 4.400 Franken (ca. 4.220 Euro) pro Kopf und Jahr. Zusätzlich müsste die Infrastruktur entstehen.

12-mal die Dachfläche der Schweiz

Variante drei ist eine Versorgung des ganzen Landes mit synthetischen Treibstoffen, sogenannten Syn- oder E-Fuels. Dieses Szenario hätte mehrere Vorteile: Hausbesitzer dürften ihre Öl- und Gasheizungen weiterbetreiben und Autobesitzer würden auch in Zukunft Diesel, Benzin oder Gas tanken. Selbst Kerosin für Ferienflieger ist in dieser Rechnung enthalten. – In Szenario 1 und 2 wären für Flugtreibstoffe jeweils 33 Quadratmeter Solarfläche pro Kopf zusätzlich notwendig.

Sowohl neue Stauseen als auch unterirdische Wasserstoffkavernen wären im dritten Szenario ebenfalls nicht nötig. Da die Kraftstoffe wiederum Wasserstoff benötigen, bedarf es aber weiterer Prozessschritte, die die Verluste bei der Umwandlung erhöhen. So müssten für dieses Szenario – pro Kopf – etwa 230 Quadratmeter mit Solarzellen bedeckt werden. Das ist 12-mal mehr als die heute verfügbare Dachfläche oder insgesamt 4,5 Prozent der Schweizer Landesfläche, so Züttel.

Hinzu käme eine Speicherbatterie von 109 kWh pro Kopf, um die gewaltige Menge an Solarstrom über den Tag einzuspeichern und für die chemische Industrie verfügbar zu machen, die daraus zunächst Wasserstoff und dann Synfuels herstellt. Die Energiekosten würden sich auf 9.600 Franken (ca. 9.200 Euro) pro Kopf und Jahr mehr als verdreifachen.

Globaler Blick auf Energieversorgung

Züttel weist zudem darauf hin, dass nicht jeder beliebige Energiepreis auch ökonomisch tragbar ist. „Seit Beginn des Industriezeitalters vor gut 200 Jahren ist die Wirtschaftsleistung jedes Landes an die Verfügbarkeit von Energie gekoppelt. Doch fürs Wachstum darf Primärenergie nicht mehr als 40 Rappen (etwa 38 Cent) pro kWh kosten, sonst arbeitet die Industrie mit Verlust“, sagt der Forscher. Mit anderen Worten, in der Schweiz erzeugter „grüner“ Strom ist zu teuer, um damit wirtschaftlich zu produzieren.

Zum Vergleich: In Deutschland betrug der Strompreis für Neuverträge in der Grundversorgung laut stromauskunft.de Ende Februar 2022 zwischen 33,72 Cent pro kWh in Bayern bis 41,12 Cent pro kWh im windreichen Schleswig-Holstein. Davon entfallen durchschnittlich 8,6 Cent auf Bereitstellung und Vertrieb, einschließlich Gewinnmarge. Weitere 7,5 Cent sind Netzgebühren. Der Rest, über die Hälfte des Preises, setzt sich aus Steuern und Umlagen zusammen.

Wir müssen uns also von der Vorstellung verabschieden, dass wir unseren gesamten Energiebedarf mit im Inland erzeugter, erneuerbarer Energie decken können“, schlussfolgert Züttel.

Er empfiehlt daher vielmehr den globalen Blick: „Wir können auf eine globale Energie-Logistik auch in Zukunft nicht verzichten.“ In Gegenden wie der Sahara oder in Australien sei die Sonneneinstrahlung so hoch, dass E-Fuels um ein Drittel billiger erzeugt werden können. Selbst das würde jedoch im Vergleich zu den heutigen Energiekosten in der Schweiz eine spürbare  Verteuerung bedeuten.

(Mit Material der EMPA)



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