Lateinamerikaner wehren sich gegen EU

Nach 20 Jahren Verhandlungen soll das Freihandelsabkommen Mercosur abgeschlossen werden – doch Brasilien will sich nicht vereinnahmen lassen. Eine Analyse.
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Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (l.) und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen (r.), während des Gipfeltreffens zwischen der EU und der Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) in Brüssel am 17. Juli 2023.Foto: Jean-Christophe Verhaegen/AFP via Getty Images
Von 19. Juli 2023

Während Brasilien unter Präsident Lula da Silva die Führung des Mercosur für die nächsten sechs Monate antritt, wird in Brüssel nun erneut über das Handelsabkommen mit der Europäischen Union diskutiert. Beim EU-CELAC Gipfel soll das wichtige Freihandelsabkommen unter Dach und Fach gebracht werden. Bei dem Treffen sollen noch offene Fragen geklärt werden, so dass das Abkommen noch dieses Jahr endgültig abgeschlossen werden könnte.

Der brasilianische Präsident hat den Gipfel gleichsam zur Chefsache erklärt und nahm selbst an dem Treffen in Brüssel zusammen mit den Staats- und Regierungschefs beider Institutionen, der EU und der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) teil.

Ob ein Abschluss gelingt, ist fraglich

Anders als die Vorgängerregierung steht die aktuelle brasilianische Regierung einer Einigung mit Brüssel zu einer Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen eher positiv gegenüber. Auch von Europa wird erhöhte Kompromissbereitschaft erwartet, seit Spanien am 1. Juli 2023 für sechs Monate die Präsidentschaft der Europäischen Union übernommen hat.

Auf dem Gipfel geht es darum, die noch bestehenden Hindernisse zu einem Abschluss abzubauen. Ob das aber gelingt, ist keineswegs sicher. Denn die Europäische Union will das Abkommen dazu nutzen, verstärkt Einfluss auf den Umweltschutz und insbesondere auf die Nutzung des Amazonas-Dschungel zu nehmen.

Zwar betont die EU die Absicht, das Abkommen mit dem Mercosur voranzubringen, man will aber auch, dass sich Brasilien in einem Zusatzprotokoll zu nachhaltigem Umwelt- und Klimaschutz bekennt.

Diese Forderungen wurden stets als nicht zu rechtfertigende Eingriffe in die Souveränität der betroffenen lateinamerikanischen Länder empfunden.

Mercosur-Staaten empfinden Umweltauflagen als Einmischung

Wenn europäische Regierungen also erwarten sollten, dass sich Brasilien unter Lula politisch vereinnahmen ließe, sitzen sie einem Irrtum auf. Brasilien wird zudem seine neutrale Position gegenüber dem Ukrainekrieg beibehalten, sosehr die Regierung auch dazu seitens der westlichen Allianz zu einer Umkehr gedrängt wird.

Politisch möchte sich Brasilien verstärkt bei den BRICS verorten. Währungspolitisch passt dazu, dass man mit einer eigenen Währung sich sowohl vom Dollar als auch vom Euro unabhängig machen will.

Mit China hat Brasilien im April dieses Jahres ein Abkommen zur „Vertiefung der umfassenden strategischen Partnerschaft“ abgeschlossen, das eine verstärkte bilaterale Partnerschaft bei der Entwicklung der Luft- und Raumfahrt, bei Infrastrukturinvestitionen und im Bereich der technologischen Innovation und Energie vorsieht. Außerdem wurde vereinbart, im bilateralen Handel ihre jeweils eigenen Währungen und nicht mehr den US-Dollar zu nutzen.

Während seitens des Mercosur jetzt mit der Präsidentschaft Lulas wohl eine rare Chance besteht, das Abkommen abzuschließen, könnten die ökologischen Forderungen seitens der EU das Abkommen jedoch erneut verhindern.

Im Unterschied zur Europäischen Union ist der Mercosur noch davon entfernt, eine supranationale Organisation zu sein. Das Bewusstsein im Hinblick auf die Souveränität ist stark verwurzelt. Umweltauflagen werden als fremde Einmischung empfunden. So wie sich die Europäer das Abkommen vorstellen, werden es die Lateinamerikaner nicht akzeptieren.

Deutsche Regierungsbesuche lösten in Brasilien Irritationen aus

Seit dem Amtsantritt von Lula am 1. Januar 2023 hat nicht nur der deutsche Bundespräsident Brasilien besucht, sondern auch eine Reihe von Mitgliedern der Bundesregierung, angefangen mit dem Kanzler. Ihr Besuch hat in Brasilien allerdings wenig Beachtung gefunden und wenn, dann eher Irritationen ausgelöst.

Das gilt auch für die Visite der EU-Kommissionschefin von der Leyen, die ihren Besuch – selbst bei Reden vor der brasilianischen Vereinigung der Industriellen (CNI) – hauptsächlich dazu benutzte, für den Krieg in der Ukraine zu werben und den Umweltschutz anzumahnen. Die Verbindung von Anbiederung mit dem Stellen von Forderungen ist nicht gut angekommen.

Sollte das Abkommen scheitern, sind die Gründe klar ausgemacht: Der Hauptgrund eines Fehlschlages läge an der Arroganz und dem fehlenden Einfühlungsvermögen der Führung der EU und leitender Personen ihrer Regierungen.

Worauf müsste die EU verzichten?

Seitens der EU wird nicht nur die Klimaideologie überstrapaziert, man fordert auch arbeitsrechtliche Garantien. Das geht den Mitgliedern des Mercosur zu weit.

Außerdem beklagen diese Länder, dass der Handel mit Agrargütern, wo ihr Wettbewerbsvorteil liegt, nur teilweise liberalisiert werden soll, während für die Industrie umfassender Freihandel angestrebt wird.

Für einen Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen Mercosur und Europäischer Union müssen daher noch fundamentale Gegensätze ausgeräumt werden.

  • Erstens müsste die EU bereit sein, auf ihre als übermäßig empfundenen ökologischen und sozialpolitischen Auflagen zu verzichten und
  • zweitens müsste die Union ihren Agrarsektor für Importe aus den Ländern des Mercosur viel mehr ausweiten, als es das gegenwärtige Abkommen vorsieht. 
  • Schließlich müsste die Führung der Europäischen Union von der Vorstellung Abschied nehmen, mit dem Freihandelsabkommen auch ihren politischen Einfluss auf die Länder des Mercosur zu erhöhen.

Die hauptsächlichen Hindernisse zu einem Freihandelsabkommen liegen somit weniger bei den Ländern des Mercosur als bei der Europäischen Union.

Am Rande des Gipfeltreffens sprach auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (M.) mit der venezolanischen Vizepräsidentin Delcy Rodriguez (2. v. l.), dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (3. v. l.), dem kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro (hinten l.) und dem argentinischen Präsidenten Alberto Fernandez (hinten r.). Das Treffen fand im Gebäude des Europäischen Rates in Brüssel am 17. Juli 2023 statt. Foto: EMMANUEL DUNAND/POOL/AFP via Getty Images

Die weltweit größte Freihandelszone

Was steckt im Abkommen? Das Abkommen würde weitgehend Freihandel zwischen der EU und dem Mercosur bedeuten. Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay sind Mitglieder des Mercosur. Die Vollmitgliedschaft Venezuelas wurde 2016 aufgehoben. Assoziierte Mitglieder des Mercosur – des Mercado Común del Sur; „Gemeinsamer Markt des Südens“ – umfassen Bolivien, Chile, Kolumbien, Ecuador, Peru, Guayana und Suriname.

Durch das geplante Handelsabkommen sollen Zölle auf 91 Prozent des Warenhandels der Mitgliedsländer des Mercosur mit der Europäischen Union – allerdings teilweise mit Übergangsfristen – abgeschafft werden. Umgekehrt würde die EU ihre Zölle für 92 Prozent aller Importe aus dem Mercosur eliminieren. Innerhalb von zehn Jahren soll es zu einer Vollliberalisierung der Industriegüter kommen.

Darüber hinaus sieht der Vertrag eine verstärkte Zusammenarbeit zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse vor und soll auch den Handel mit Dienstleistungen erleichtern. Beim öffentlichen Auftragswesen sollen EU-Unternehmen gleichwertigen Zugang erhalten.

Allerdings werden zum Schutz der EU-Landwirtschaft bei bestimmten Agrarprodukten die Märkte nicht vollständig geöffnet. Für eine Reihe sogenannter „sensibler Agrarprodukte“ sieht das Abkommen Quoten vor, eine Regelung, die beim Mercosur weiterhin auf Ablehnung stößt.

Das Territorium dieses Wirtschaftsblocks in seiner heutigen Form ist deutlich größer als das der Vereinigten Staaten. Der Mercosur umfasst einen Markt von 295 Millionen Menschen. Im Jahr 2022 betrug das gemeinsame Bruttoinlandsprodukt der im Mercosur zusammengeschlossenen Länder 5,2 Billionen US-Dollar. Durch ein Abkommen der Europäischen Union mit dem Mercosur würde die weltweit größte Freihandelszone mit fast 800 Millionen Einwohnern entstehen. 

Die Verhandlungen für das Abkommen haben vor über zwei Jahrzehnten begonnen und schon 2019 wurde ihr allgemeiner Abschluss angekündigt. Immer wieder ist es zu Problemen der Einigung gekommen – schließlich muss jedes einzelne Mitgliedsland der beiden Handelsblöcke den Vertrag durch sein jeweiliges Parlament ratifizieren. 

Durch die Sanktionspolitik gegenüber Russland hat sich Europa in eine prekäre Lage manövriert und sucht nun nach neuen Quellen der Versorgung mit Rohstoffen – genau jene Ressourcen, die die Länder des Mercosur und insbesondere Brasilien im Überfluss besitzen. Die Europäer sind auf einen Ausgleich der Ausfälle durch Russland angewiesen. Ein Freihandel mit dem Mercosur wäre dazu das richtige Mittel.

Zum Autor

Dr. Antony P. Mueller lebt in Brasilien. Er war bis zu seiner Pensionierung Professor an der Bundesuniversität UFS und ist derzeit Dozent an der Mises Academy in São Paulo. Auf Deutsch ist von ihm 2021 „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie“ erschienen und 2023 sein Buch „Technokratischer Totalitarismus“.

 



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