Ex oriente Lux: Wissenstransfer zwischen Orient und Okzident

In turbulenten Zeiten, in denen der Orient hierzulande vor allem mit Ängsten und Sorgen verbunden wird, erinnert uns nicht nur die biblische Geschichte von den Heiligen Drei Königen an die langen kulturellen, religiösen und auch ökonomischen Verbindungen zum Nahen und Mittleren Osten.
Titelbild
Die Umayyaden Moschee in Damaskus, Syrien, vom römischen Tempel zur byzantinischen Basilika und zwischen den Jahren 708 und 715 in die heutige Moschee umgewandelt.Foto: iStock
Von 21. Oktober 2018

Als die Araber im Zeichen des Islam im 7. Jahrhundert aufbrachen, um in kürzester Zeit ein Reich zu erobern, das sich von Indien bis nach Italien, Spanien und Südfrankreich ausdehnte, wurde auch der Anstoß gegeben zur Entstehung einer islamischen Kultur, deren Charakter kosmopolitisch war.

In Bagdad schufen die Kalifen, Herrscher über ein Weltreich, seit 750 eine strahlende Metropole, die auch zu einem Wissenschaftszentrum wurde. Der legendäre Harun ar-Raschid gründete ein „Haus der Weisheit“ (Bayt al-Hikma), einen Anziehungspunkt für Gelehrte aller Nationen und Disziplinen, das Akademie, Forschungsstätte, Hochschule und Übersetzungsdienst zugleich war.

Indische, persische und griechische Werke wurden dort ins Arabische übertragen, die Überlieferungen der Antike erschlossen und neue Erkenntnisse auf der Grundlage des hier konzentrierten Wissens der Weltkulturen erarbeitet. Ein Hort des Denkens, Forschens, Lernens und kreativen Schaffens entstand, der die praktische Realisierung der Vorschrift Gottes  bedeutete:

Denkt nach, die Ihr Einsicht habt“ (Koransure 59,2).

Höhepunkt der schöpferischen Aktivität des Bayt al-Hikma war die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts. Einer der wichtigsten Köpfe des Hauses, Hunain ibn Ishaq, ein aramäischer Christ, soll 116 Werke übersetzt, aber auch viele Schriften auf ausgedehnten Reisen beschafft haben.

Die Bücher von Archimedes, Euklid, Ptolemäus, Pythagoras, Plato und Aristoteles, von Hippokrates und Plotin sind hier ebenso übersetzt worden wie die Werke des Arztes Galen und der indischen Gelehrten Brahmagupta, Aryabhata, Charaka und Sushruta.

Grundlagen unserer Mathematik

Herausragend unter den vielen brillanten Wissenschaftlern, die in diesem Umfeld in Bagdad wirkten, war al-Chwarzmi. Er hat das indische Zahlensystem und die Ziffer 0 eingeführt, Dezimalzahlen erklärt und die Grundlagen für unsere heutige Mathematik gelegt, wo der Wert einer Ziffer durch ihre Stellung in der Gesamtzahl bestimmt wird.

Seine mathematischen Rechenverfahren und die genauen Anweisungen dafür haben unseren Begriff „Logarithmus“ geprägt, der auf al-Chwarizmis Namen zurückgeht.

Auch das, was wir heute mit dem arabischen Terminus Algebra (al-dschabr = Gebrochenes wieder zusammensetzen) bezeichnen, verdanken wir ihm, der einfache und quadratische Gleichungen vorstellte, das Konzept des Sinus einführte und mathematische Funktionen geometrisch darstellte. Zahlreiche Maschinen wurden im Umfeld des Hauses der Weisheit erfunden, so ein „selbstspielendes Instrument“; und in Feldversuchen gelang es Forschern des Hauses, einen Meridian zu vermessen.

Die islamische Welt des Mittelalters wurde ein Großraum des Austauschs von Ideen, Erfindungen, Kenntnissen und Techniken. Auf den verschiedenen Wissensgebieten wurde gesammelt, geforscht und Neues gefunden. Astronomische Tafeln wurden erstellt, welche die Position und Bahn von Gestirnen festhielten und noch Jahrhunderte später von Kopernikus benutzt wurden; das Sonnenjahr berechneten muslimische Forscher so exakt, dass sie nur Minuten von unseren heutigen Berechnungen abwichen. Omar Khayyams (1048–1131) Kalender war genauer als der 500 Jahre später etablierte gregorianische Kalender.

Das Astrolab, seit der Antike bekannt, entwickelten Astronomen der islamischen Welt weiter, um genaue Zeiten und nautische Positionen zu bestimmen. Al-Idrisi (1100–1165), der am Hofe des Normannenkönigs Roger II. in Sizilien wirkte, schuf die genaueste Weltkarte seiner Zeit; sie zeigte vor allem Europa detailliert und blieb noch Jahrhunderte maßgeblich.

Auch in der Optik gab es bedeutende Errungenschaften. Neben den theoretischen Abhandlungen wurde mit dem „Lesestein“ aus geschliffenem Glas um das Jahr 1000 die wohl erste Lupe erfunden, die Roger Bacon bei seinen theoretischen Vorarbeiten zur Erfindung der Brille inspirierte.

Auf medizinischem Gebiet gab es ebenfalls Fortschritte: Der ansteckende Charakter von Pest und Tuberkulose wurde erkannt und das Herz als Pumpe beschrieben. Ibn an-Nafis (ca. 1210–1288) stellte als erster die Existenz des Blutkreislaufs fest – lange vor William Harvey, der ihn im 17. Jahrhundert detaillierter erfasste.

Auch sehr praktische Leistungen wurden in der islamischen Welt erbracht: Abbas ibn Firnas (810–887) unternahm den ersten erfolgreichen Gleitflug eines Menschen, noch deutlich vor Eilmer von Malmesbury im 11. Jahrhundert und über sechs Jahrhunderte vor den Versuchen eines Leonardo da Vinci.

Die Kunst der Papierherstellung gelangte wohl durch chinesische Kriegsgefangene 751 in die islamische Welt. In Bagdad wurde seit 795 Papier hergestellt und im 12. Jahrhundert gelangte diese Fertigkeit nach Europa: Das erste europäische Dokument auf Papier ist ein zweisprachiger griechisch-arabischer Erlass aus dem normannischen Sizilien des Jahres 1109. Damals gab es in Spanien bereits eine florierende Papierwirtschaft.

Brücken zwischen den Kulturen

Sizilien und Spanien waren die Länder muslimisch-europäischer Symbiose, des Austauschs und des Kulturtransfers, die eine Brückenfunktion zwischen Orient und Okzident hatten. Zuckerrohr (das später eine wichtige Rolle in der Kolonialwirtschaft spielte) und Datteln, Baumwolle, Oliven, Orangen, Zitronen und Auberginen kamen über diese Länder aus dem Orient nach Europa, orientalische Bewässerungstechniken belebten die Landwirtschaft.

Im Jahre 711 eroberten die Muslime den größten Teil Spaniens, und erst 1492 verschwand der letzte muslimische Staat von spanischem Boden. Spanien war zwar Schauplatz eines ständigen Konflikts zwischen Islam und Christentum, doch gab es hier auch fruchtbare Kulturkontakte: Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden in Toledo arabische Texte ins Lateinische und Kastilische übersetzt. Werke von Aristoteles gelangten so in der Version von Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Ruschd) ins Abendland.

Die Kommentare und Erläuterungen von Avicenna und Averroes haben Europa den Weg für ein Verständnis der aristotelischen Philosophie vorgezeichnet, uns Aristoteles in ihrer Interpretation vermittelt.

Auch der Almagest von Ptolemäus gelangte von Toledo als Rückübersetzung aus dem Arabischen wieder ins europäische Bewusstsein. Manches Werk der Antike, das verloren schien, kam über das Arabische ins spätmittelalterliche Europa. Die „Übersetzerschule von Toledo“, bestehend aus Juden und Christen, erreichte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts unter Alfons dem Weisen ihren Höhepunkt. Euklid, Archimedes, Galen und Hippokrates fanden auf diese Weise ihren Weg ins christliche Europa ebenso wie arabische Originalwerke wie z.B. die von al-Chwarizmi.

Medizinische Lehrwerke arabischsprachiger Autoren wurden zu Standardwerken an europäischen Hochschulen und blieben dort teilweise bis ins 18. Jahrhundert in Gebrauch.

Arabischer Palast Alhambra in Granada, Spanien bei Dämmerung mit Sierra Nevada Bergen im Hintergrund. Foto: iStock

In Spanien wurden auch zahlreiche Einflüsse in der Kunst vermittelt: Arabische Musik prägte die Troubadoure Europas und zahlreiche orientalische Elemente fanden Eingang in den Mudejar-Stil auf der iberischen Halbinsel: Hufeisenbögen ebenso wie Artesonados (Kassettendecken) oder Yeserias (Stuckornamente).

Viel kürzer war die islamische Epoche in Sizilien, die dort vom Ende des 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts dauerte, aber ihre kulturelle Fortsetzung im normannischen und staufischen Sizilien fand. In einer königlichen Werkstatt der Normannen wurde ein Prunkmantel hergestellt, der arabische Segenswünsche und orientalische Ornamentik enthielt, Jahrhunderte als Krönungsmantel deutscher Kaiser diente und heute in der Wiener Hofburg zu sehen ist.

Als älteste Universität des Abendlandes gilt die medizinische Hochschule von Salerno, deren Anfänge ins 9. Jahrhundert zurückgehen sollen, die aber vor allem vom Normannenkönig Roger II. und Stauferkaiser Friedrich II. gefördert wurde. Durch den christlich-arabischen Mediziner Constantin Africanus, seine Übersetzungen und Originalwerke wurde Salerno zu dem Ort, über den große Teile des Wissens der orientalischen Mediziner nach Europa gelangte und sich die Pharmazie als eigene Wissensdisziplin etablierte.

Bleibende Spuren

Noch heute sind in den europäischen Sprachen arabische Vokabeln Zeugnisse der vielfältigen arabisch-muslimischen Kultureinflüsse. Im Deutschen finden sich nicht nur Sternnamen wie Aldebaran oder Algol (das vor über 50 Jahren auch Bezeichnung für eine der ersten Programmiersprachen wurde), sondern alltägliche Begriffe wie Sofa, Ziffer, Kabel, Magazin, Admiral oder Algebra, Alkohol, Havarie, Laute und Razzia. „Schachmatt“ ist ein persisch-arabischer Satz (‚der Koenig starb’).

Wenn uns heute ständig Nachrichten über Gräueltaten, die im Namen des Islam verübt werden, erreichen, fällt es zunehmend schwer, eine Verbindung herzustellen zu den genannten Epochen des kulturellen Austauschs. Denen, die wahllos im Namen des Islam töten und dabei auch den eigenen Tod suchen, sei die Überlieferung (hadith) eines Wortes des Propheten nahe gebracht:

Die Tinte des Gelehrten ist heiliger als das Blut des Märtyrers.“

Dieser Artikel erschien zuerst 2015 im Rotary Magazin

Dr. Alfred Schlicht ist Orientalist und arbeitete viele Jahre im Nahen Osten. Zu seinen Werken gehören u.a. „Die Araber und Europa. 2000 Jahre gemeinsamer Geschichte“ (Kohlhammer 2008) und „Geschichte der arabischen Welt“ (Reclam 2013). Sein neuestes Buch „Gehört der Islam zu Deutschland?“ erschien 2017 in Zürich (Orell&Fuessli)



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion