Deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten für eine andere Art von Demokratie

Drei von vier wahlberechtigten Deutschen sehen in der repräsentativen Demokratie nicht mehr das Maß aller Dinge, obwohl deutliche Mehrheiten nicht an aktuelle „Verschwörungstheorien“ glauben.
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Hat die repräsentative Demokratie ausgedient? – Hier schüttelt Boris Pistorius am 19. Januar 2023 vor seiner Vereidigung zum Verteidigungsminister zahlreiche Hände der Parlamentarier. Mehr Zuspruch bekam in der Infratest-dimap-Umfrage die direkte Demokratie.Foto: Tobias Schwarz/AFP via Getty Images
Von 27. April 2023

Die überwiegende Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland wünscht sich eine Reform des demokratischen Systems der Bundesrepublik mit mehr Transparenz und Möglichkeiten zur Beteiligung. Auch Bürgerräte, ein Vetorecht zur Korrektur ungewollter politischer Entscheidungen und höhere Steuern für Gutsituierte stehen auf der Wunschliste der meisten.

Das sind nur einige Ergebnisse aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap, die vor knapp einem Jahr von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Auftrag gegeben worden war und nun vorgestellt wurde. Nähere Auskünfte zur langen Dauer bis zur Publikation waren von der FES kurzfristig nicht zu bekommen.

75,5 Prozent für ein anderes demokratisches System

Unter allen gut 2.500 per Telefon oder online Befragten zeigte sich im Sommer 2022 deutlich, dass mit 24,5 Prozent der Wahlberechtigten ab 18 Jahren nicht einmal mehr ein Viertel das System der repräsentativen Demokratie für das beste Regierungsmodell hielten. 35,7 Prozent teilten „voll und ganz“ die Meinung, dass es abseits von Wahlen nicht genügend Beteiligungsmöglichkeiten gebe. 32,5 Prozent stimmten dem zumindest „eher“ zu.

Die Einführung von Bürgerräten (67,5) oder das Vetorecht des Volkes gegen politische Entscheidungen (67,1) fanden jeweils auch eine deutliche Mehrheit.

Im Einklang damit steht der Befund, dass 41,4 Prozent eine direkte Demokratie mit Ja/Nein-Entscheidungen favorisierten, an denen sich das Volk selbst beteiligen dürfte. Ein Drittel (33,4 Prozent) gab im Sommer 2022 an, politische Entscheidungen lieber Experten als Politikern überlassen zu wollen.

Mehr Transparenz über die Gründe für das Abstimmungsverhalten eines Abgeordneten im Parlament – Stichworte Interessenverflechtungen und Lobbyismus („legislativer Fußabdruck“) – hätte ebenfalls eine deutliche Mehrheit von 79,7 Prozent begrüßt.

Nach einer Infratest dimap-Umfrage hält nicht einmal mehr ein Viertel aller Befragten das System der repräsentativen Demokratie für das beste Regierungsmodell. Foto: Grafik/Screenhot -Umfrage FES/Universität Bonn 2022

Nach einer Infratest dimap-Umfrage hält nicht einmal mehr ein Viertel aller Befragten das System der repräsentativen Demokratie für das beste Regierungsmodell. Foto: Grafik/Screenhot -Umfrage FES/Universität Bonn 2022

Fast 58 Prozent für höhere Belastung der Gutsituierten

Für mehr Schulden zur Finanzierung der Staatsausgaben fand sich mit 10,7 Prozent nur eine Minderheit. 31,7 Prozent der Befragten sähen es lieber, wenn die Ausgabenschraube nach unten gedreht würde.

Eine Mehrheit von 57,6 Prozent aber hätte es am besten gefunden, wenn die Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen erhöht würden.

57,6 Prozent der Wahlberechtigten über 18 Jahre wünschte sich im Sommer 2022, die Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen zu erhöhen. Foto: Grafik/Screenhot -Umfrage FES/Universität Bonn 2022

57,6 Prozent der Wahlberechtigten über 18 Jahre wünschte sich im Sommer 2022, die Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen zu erhöhen. Foto: Grafik/Screenshot – Umfrage FES/Universität Bonn 2022

51,3 Prozent unzufrieden mit Demokratiepraxis

Eine knappe Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland war nicht wirklich mit dem Zustand der Demokratie zufrieden.

34,1 Prozent der Befragten gaben an, „weniger zufrieden“ mit der „Art und Weise“ zu sein, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Weitere 17,2 Prozent ordneten sich der Gruppe der „überhaupt nicht“ Zufriedenen zu. Damit äußerten 51,3 zumindest Zweifel an der Demokratiepraxis in der Bundesrepublik Deutschland.

Mit 41,4 Prozent war die Gruppe der „ziemlich“ Zufriedenen relativ gesehen noch immer am größten. Aber selbst zusammen mit den „sehr“ Zufriedenen (7,3 Prozent) reichte es nicht für die Mehrheit.

Drei Jahre zuvor hatte es bei gleicher Fragestellung noch düsterer ausgesehen: 2019 waren sogar 53,4 Prozent der Befragten entweder wenig zufrieden oder überhaupt nicht zufrieden gewesen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)  bezeichnete die Demokratiezufriedenheit wegen des geringen Abstands als „stabil“.

 

Mit 51,3 Prozent war eine knappe Mehrheit der Wahlberechtigten über 18 Jahre weniger oder überhaupt nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. Foto: Grafik/Screenhot -Umfrage FES/Universität Bonn 2022

Mit 51,3 Prozent war eine knappe Mehrheit der Wahlberechtigten über 18 Jahre im Sommer weniger oder überhaupt nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. 2019 hatte es noch rund zwei Prozentpunkte mehr an Unzufriedenen gegeben. Foto: Grafik/Screenshot – Umfrage FES/Universität Bonn 2022

Unterschicht am unzufriedensten

Je tiefer die Befragten nach eigener Wahrnehmung in der gesellschaftlichen Pyramide stehen, desto stärker war im Sommer 2022 offenbar ihre Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie.

Jene, die sich in diesem Sinne selbst als Angehörige der Unterschicht beziehungsweise Arbeiterschicht klassifizierten, äußerten sich zu 28,7 Prozent als überhaupt nicht zufrieden, weitere 38,5 Prozent als weniger zufrieden. Nur 3,8 Prozent zeigten sich sehr zufrieden. Damit sahen die Menschen, die sich selbst unterhalb des Mittelstands einordnen, zu mehr als zwei Dritteln Verbesserungsbedarf, was das Funktionieren der Demokratie angeht.

Unter den selbst erklärten Angehörigen der Mittelschicht stellte die Studie dagegen schon eine – wenn auch geringe – Mehrheit der ziemlich (46,1 Prozent) oder sehr (8,2 Prozent) Zufriedenen fest. Als sehr unzufrieden äußerten sich 11,9 Prozent von ihnen und damit nur geringfügig mehr als in der Gruppe der Oberschicht beziehungsweise oberen Mittelschicht (11,4 Prozent).

Bei denjenigen, die sich der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht zugehörig fühlten, maß das Meinungsforschungsinstitut die größte Zufriedenheit: 52,2 Prozent gaben an, ziemlich zufrieden zu sein, zwölf Prozent sogar sehr zufrieden.

Unzufriedenheit überwiegt, unabhängig von Bildungsgrad

Aufgeschlüsselt nach formalem Bildungsgrad zeigten die Antworten tendenziell ein ähnliches Szenario. Die drei Gruppen niedriger, mittlerer und hoher Bildung lagen allerdings in ihrer Einschätzung über das Funktionieren der Demokratie nicht mehr so weit auseinander.

Während sich die Menschen mit niedriger Bildung nur noch zu 63,6 Prozent „weniger“ oder „überhaupt nicht“ zufrieden zeigten, stieg der Anteil der mehr oder weniger Enttäuschten sowohl in der mittleren als auch in der hohen Bildungsgruppe deutlicher an. Menschen mit mittlerem Bildungsgrad waren zu 36,3 Prozent „weniger“, zu 18 Prozent „überhaupt nicht“ zufrieden. Bei höher Gebildeten sah es mit 33,9 und 17,1 Prozent nicht viel besser aus.

In den „neuen Bundesländern“ waren im Sommer 2022 nur 34 Prozent der Wahlberechtigten über 18 Jahre zeimlich oder sehr zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. Foto: Grafik/Screenhot -Umfrage FES/Universität Bonn 2022

In den „neuen Bundesländern“ waren im Sommer 2022 nur 34 Prozent der Wahlberechtigten über 18 Jahre ziemlich oder sehr zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. Foto: Grafik/Screenshot – Umfrage FES/Universität Bonn 2022

Osten unzufriedener

Ein deutliches Gefälle zeigte sich bei der Differenzierung nach Einwohnern der neuen und alten Bundesländer. Im Westen beschrieben sich 44,5 Prozent als „ziemlich“ und 8,2 Prozent als „sehr zufrieden“; im Osten gaben nur 29,8 Prozent (ziemlich) und 4,2 (sehr) ihre grundsätzliche Zufriedenheit mit dem repräsentativen demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland an, also nur ein gutes Drittel.

„Während die Zufriedenheit im Westen um 2,5 Prozentpunkte gestiegen ist, hat sie im Osten um 2 Prozentpunkte abgenommen“, ergänzten die Studienautoren unter Verweis auf ihre gleichartige Studie aus dem Jahr 2019.

Mehrheit glaubt nicht an „Verschwörungstheorien“

Auch den Glauben an fünf sogenannte „Verschwörungstheorien“ fragte Infratest dimap ab. Die meiste Zustimmung erhielt mit 36,3 Prozent die Aussage, dass die Regierung die Bevölkerung in der Corona-Krise gezielt in Angst versetzt hat, um massive Grundrechtseinschränkungen durchzusetzen.

Die wenigste Zustimmung erhielten die Forscher auf die Frage, ob das Coronavirus eine „absichtlich entwickelte“ Biowaffe sei, mit der man Menschen schaden wolle: Dem stimmten 8,7 Prozent voll und ganz zu, 9,4 Prozent „eher“. 60,4 Prozent stimmten dem „überhaupt nicht“ zu – das größte Ausmaß aller klaren Ablehnungen unter allen fünf Verschwörungstheoriebeispielen.

Zumindest 30,4 neigten zu der Annahme, dass sich die „westliche Welt […] gegen Russland und Putin verschworen“ habe, „um die eigene Macht auszubauen“. Dass Wissenschaftler „die Risiken des Klimawandels“ absichtlich übertreiben, „um mehr Geld und Anerkennung für ihre Forschung zu erhalten“, glaubten „eher“ 10,6 Prozent oder „voll und ganz“ 14,5 Prozent – insgesamt also ein gutes Viertel der Befragten. Mit 25 Prozent stimmte ebenfalls jeder Vierte der Behauptung zu, dass „die herrschenden Eliten“ beabsichtigten, „das deutsche Volk durch die Einwanderer auszutauschen“.

Eine hohe Zustimmung zu den „Verschwörungstheorien“ korrelierte nach Angaben der Friedrich-Ebert-Stiftung „fast immer mit einer negativen Bewertung der Demokratie“.

Angst vor „Klimawandel“ am größten

Pandemien machten im Sommer 2022 nur noch 11,4 Prozent der Befragten „sehr große Sorgen“, immerhin 40,4 Prozent aber noch „große Sorgen“.

Der „Klimawandel“ und das Thema „Hass und Feindseligkeit“ teilten sich mit je 80,1 Prozent den Spitzenplatz der Sorgen. Weitere Ängste kamen beim Thema Krieg (74,3 Prozent), dem Verlust sozialer Sicherheit (73,5), Inflation (73,3), Rechtsextremismus (66,5), Wohlstandsverlust (63,9) und Migration (44,9) zum Vorschein.

Der „Klimawandel“ und „Hass und Feindseligkeit“ bereiteten den Wahlberechtigten über 18 Jahre im Sommer 2022 die meisten Sorgen. Angst vor Pandemien hatte mit 51,8 Prozent eine knappe Mehrheit. Foto: Grafik/Screenhot -Umfrage FES/Universität Bonn 2022

Der „Klimawandel“ und „Hass und Feindseligkeit“ bereiteten den Wahlberechtigten über 18 Jahre im Sommer 2022 die meisten Sorgen. Angst vor Pandemien hatte mit 51,8 Prozent eine knappe Mehrheit. Foto: Grafik/Screenshot – Umfrage FES/Universität Bonn 2022

Komplette Studie als PDF

Die Studie „Demokratievertrauen in Krisenzeiten – Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft?“ von Volker Best, Frank Decker, Sandra Fischer und Anne Küppers liegt auch als 84-seitige PDF-Broschüre vor. Die Leitung lag bei Roberto Heinrich und Nico Siegel von Infratest dimap.

Grundlage war nach Angaben der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Befragung anhand einer repräsentativen, 2.536 Personen starken Zufallsstichprobe unter den „wahlberechtigten Deutschen ab 18 Jahren in Privathaushalten“. Zur Kontaktaufnahme habe man die Menschen zwischen dem 11. Juli und dem 9. August 2022 befragt.



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