Bildschirmzeit fördert Selbstmordgedanken bei Kindern und Jugendlichen

Jede Stunde Bildschirmzeit mehr erhöht die Wahrscheinlichkeit um neun Prozent, dass Kinder und Jugendliche in zwei Jahren Selbstmordgedanken hegen. Das geht aus einer neuen Studie hervor.
Bildschirmzeit erhöht Selbstmordgedanken.
Kindern und Jugendlichen drohen durch neue Medien psychische Schäden, bis hin zu Selbstmordgedanken.Foto: iStock
Von 2. März 2023


Ein niedliches Tiervideo auf TikTok, ein paar Runden auf der Spielekonsole, SMS oder Videochats mit Freunden. Die kleinen und großen Bildschirme sind aus Kinderhänden kaum noch wegzudenken. Auch in etlichen Schulen läuft ohne Smartphones, Tablets und Computer nichts mehr. Doch ganz ungefährlich ist das nicht. Denn neben den körperlichen Einschränkungen, die durch Bewegungsmangel auftreten, drohen den Kindern und Jugendlichen auch psychische Schäden, bis hin zu Selbstmordgedanken. Eine in „Preventiv Medicine“ Ende Februar 2023 veröffentlichte Studie lässt aufhorchen.

Forscher aus den Vereinigten Staaten haben einen Zusammenhang zwischen der Zeit, die Kinder vor den Bildschirmen verbringen, und suizidalem Verhalten zwei Jahre später festgestellt. Wie genau die Zeit am Bildschirm das Verhalten beeinflusst, galt es herauszufinden.

Zu den Modalitäten gehörten das Ansehen und Streamen von TV-Sendungen, Filmen und Videos, das Spielen von Videospielen, SMS, Video-Chats und Social Media. Im Rahmen einer Baseline-Studie (2016–2018) berechneten die Forscher anhand der von 9- bis 10-jährigen Kindern angegebenen Zeit einen wöchentlichen Durchschnittswert. In der Folgestudie (2018–2020) wurde das Verhalten der 11- bis 14-Jährigen erneut überprüft.

Ob ein suizidales Verhalten vorliegt, wurde anhand eines computergestützten Programms bewertet. Dies war dann der Fall, wenn Teilnehmer über passive, allgemeine oder konkrete Suizidgedanken oder Selbstmordversuche berichteten; genauer gesagt gab es folgende Kategorien:

  • gegenwärtige passive Suizidgedanken
  • unspezifische aktive Suizidgedanken
  • aktive Suizidgedanken mit einem Plan
  • aktive Suizidgedanken mit einer Methode
  • aktive Suizidgedanken mit Absicht
  • vorbereitende Maßnahmen zum Suizid
  • einen kürzlichen Selbstmordversuch oder
  • einen abgebrochenen Selbstmordversuch.

Durchschnittlich vier Stunden täglich am Bildschirm

Zu Beginn der Studie berichteten die neun- bis elfjährigen Teilnehmer, dass sie durchschnittlich vier Stunden am Tag an Bildschirmen verbrachten. Nach zwei Jahren gaben 160 der 11.633 Kinder (1,38 Prozent) Hinweise darauf, dass sie mindestens eines der vorgenannten Verhaltensmuster entwickelt hatten. SMS, Video-Chat, Videos und Videospielen hatten dabei den größten Einfluss auf die Kinder.

Die Forscher sind sich einig, dass die Bildschirmzeit als potenzieller Risikofaktor für suizidales Verhalten bei Jugendlichen bewertet werden muss; erst recht in Anbetracht der Corona-Pandemie, in der die Kinder noch mehr Zeit vor dem Bildschirm verbracht haben und ein erhöhtes suizidales Verhalten aufgetreten ist.

Nicht untersucht wurden in der Studie die körperliche Aktivität der Kinder, soziale Kontakte und Unterstützung sowie andere Gesundheitszustände. Weiterhin sei eine Datenverzerrung möglich, da die Kinder nicht untersucht, sondern nur befragt wurden. Zudem wurde die zweite Studie nach zwei Jahren in einem relativ kurzen Abstand zur ersten verfasst. Die Rate der suizidalen Verhaltensweisen würden in der Adoleszenz im Alter zunehmen, heißt es von den Wissenschaftlern. Aus diesem Grund sollen weitere Studien folgen.

Die Autoren der Studie erachten es als dringend notwendig, die heutigen Kinder und Jugendlichen in Bezug auf die Bildschirmbenutzung anzuleiten. Wenn Jugendliche auf suizidales Verhalten untersucht werden, sollte hinterfragt werden, wie viel Zeit sie am Bildschirm verbringen.

Anzahl der Selbstmordversuche in Deutschland verdreifacht

Wie Zahlen aus Deutschland zeigen, hat sich die Rate der Selbstmordversuche im zweiten Lockdown im Vergleich zu 2017 bis 2019 (25 bis 37 Fälle pro Jahr) bei Kindern und Jugendlichen fast verdreifacht. „Im ersten Lockdown gab es noch eine positive Aussicht, ein Ende schien in Sicht zu sein“, erklärte der Kinderintensivmediziner Christian Dohna-Schwake gegenüber dem „Ärzteblatt“. 2020 wurden 16 Fälle bei Mädchen und 6 bei Jungen, insgesamt also 22, gemeldet.

Im zweiten Lockdown konnte jedoch von einer positiven Aussicht keine Rede mehr sein, was sich in der Anzahl von 93 Suizidversuchen widerspiegelt. Zwei der Jugendlichen sind laut „Ärzteblatt“ später verstorben. In den meisten Fällen der Selbstmordversuche hätten Medikamente eine Rolle gespielt. Ab November 2020 hatte die Politik den zweiten, „leichten Lockdown“ beschlossen, der bis zum 19. Januar 2021 wiederholt verlängert und schrittweise verschärft wurde, bevor er Ende Mai 2021 aufgehoben wurde. Dohna-Schwake sieht als Ursache der Suizidversuche neben Ängsten, Angehörige anzustecken, auch Ängste vor sozialen Nöten.

Obwohl Kinder und Jugendliche während der weltweiten Corona-Pandemie lediglich ein sehr geringes Risiko für eine schwere COVID-Erkrankung hatten, mussten sie ihre sozialen Kontakte minimieren. Das geht aus einer im Juli 2022 veröffentlichten Studie zur pädiatrischen Intensivaufnahme von Jugendlichen nach Suizidversuchen von 12- bis 18-Jährigen hervor, an der Dohna-Schwake mitgewirkt hat.

„Im Laufe der Pandemie in Deutschland haben schwere Suizidversuche, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, stark zugenommen“, schreiben die Autoren. Begrenzte soziale Kontakte, Einsamkeit und Unsicherheit gegenüber der Zukunft gehörten zu den coronabedingten Stressoren, die das psychische Wohlbefinden insbesondere bei Jugendlichen beeinträchtigen können.

Laut Statistischem Bundesamt haben sich im Jahr 2021 insgesamt 27 Kinder unter 15 Jahren das Leben genommen, davon 12 Jungen und 15 Mädchen. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen waren es insgesamt 162 Jugendliche, 118 männlich und 44 weiblich. Die Zahl der Versuche dürfte in beiden Gruppen ungleich höher liegen.

Orientierung bietet die 3-6-9-12-Faustregel

Wer seinen Kindern Zugang zu Handys, Spielkonsolen oder anderen digitalen Geräten ermöglicht, sollte bedenken, dass dies zunächst auf Kosten des direkten Austauschs zwischen Eltern und Kind geht, warnt Jana Pötzsch-Bischoffberger, Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin. „Übermäßig konsumiert, reduziert sich beispielsweise der Wortschatz, mit dem sich Eltern und Kinder über den Tag verständigen.“

Das habe zum einen Nachteile auf die sprachliche Entwicklung der Kinder. Andererseits seien Kinder, die viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, zudem gereizter und launenhafter. „Wenn ich immer nur einen Button drücken muss, um zu bekommen, was ich will, erlebe ich im Umgang mit den eigenen Wünschen keine Grenzen oder auch mal Enttäuschungen“, erklärt die Ärztin.

Konzentrationsstörungen in der Schule, motorische Verzögerung durch Bewegungsmangel, Schlafstörung, Übergewicht, ungesundes Essverhalten, chronische Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen – all das können Folgen von übermäßiger Mediennutzung sein. Bei Jugendlichen sehen die Ärzte besorgt eine Zunahme depressiver Verstimmungen und Angststörungen.

Den Eltern wird geraten, die Zeit einzuschränken, die Kinder vor dem Bildschirm verbringen. Eine gute Orientierungshilfe biete die vom französische Psychoanalytiker Serge Tisseron im Jahr 2008 entwickelte 3-6-9-12-Regel. „Bis zum dritten Lebensjahr empfehlen Psychologen ganz auf den Bildschirm zu verzichten, vor dem sechsten Lebensjahr sollte das Kind keine Spielkonsole besitzen, bis neun kein eigenes Smartphone und bis zwölf nicht unbeaufsichtigt mit Computer und Internet umgehen“, so Pötzsch-Bischoffberger.

Für 3- bis 5-Jährige hält sie eine Obergrenze am Bildschirm von einer halben Stunde am Tag ratsam, in der Altersgruppe 5 bis 9 Jahre das Doppelte. „Ab dem 10. Lebensjahr rate ich den Eltern, ein Wochenlimit zu vereinbaren, um den selbstständigen Umgang mit Medien zu trainieren“, erklärte die Kinderärztin.

Falls Sie oder ein Ihnen nahestehender Mensch Selbstmordgedanken haben, holen Sie sich Hilfe. Kontaktieren Sie die Telefonseelsorge, die anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar ist, unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222.



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