Wie viele „Doppelwummse“ brauchen wir? Wie viele können wir uns leisten?

In einem Gastkommentar spricht der ehemalige Hamburger Umweltsenator, Prof. Fritz Vahrenholt, über die Energiewende und über die derzeitige Wirtschafts- und Klimapolitik der Ampel-Regierung – infolge derer die Emissionen alles andere als sinken.
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Die Produktion von Strom aus Windenergie und Solarkraft ist gestiegen.Foto: iStock
Von 8. November 2022

Bevor wir auf die Energiepreisentwicklung im nächsten Jahr eingehen, werfen wir einen Blick auf die Temperaturentwicklung. Die Abweichung der globalen Temperatur vom 30-jährigen Mittel der satellitengestützten Messungen der University of Alabama (UAH) ist im Oktober 2022 gegenüber dem September von 0,24 Grad auf 0,32 Grad Celsius gestiegen. Die durchschnittliche Temperatursteigerung pro Jahrzehnt beträgt seit 1979 nach wie vor 0,13 Grad Celsius – kein Grund sich irgendwo anzukleben.

„Doppelwumms“ und dann?

Finanzminister Lindner hat das kurze Aufbäumen der FDP in Richtung realitätsbezogener Energiepolitik beendet. Noch vor wenigen Wochen hieß es in der Tagesschau: „Die FDP dringt dagegen auf einen Weiterbetrieb aller drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke bis ins Jahr 2024.“ Hatte man noch die Hoffnung, dass bis zum 15. April, dem letzten Tag der drei noch verbliebenen Kernkraftwerke, die FDP Vernunft in die Regierungspolitik bringen könnte, machte Lindner mit dem Spruch vom 3. November ein Ende mit den Hoffnungen auf Vernunft: Die Frage sei „jetzt einfach mal entschieden, da muss man auch sagen, jetzt ist Ende“.

Was ändert sich am 15. April 2023, dass man auf 4.500 Megawatt (MW) Kernenergie verzichten kann? Es lohnt sich, auf den mit aller Kraft vorangetriebenen Ausbau der Erneuerbaren Energien zu schauen. Die geplanten Windkraftwerke müssen sich an Ausschreibungen der Bundesnetzagentur beteiligen. In diesem Jahr, dem ersten Jahr der Ampel, haben bislang etwa 3.000 MW onshore Windkraftwerke einen Zuschlag bekommen, die in den nächsten Jahren gebaut werden sollen.

Das sind etwa 7 Terawattstunden Strom. Es fallen aber am 15. April 2023 rund 35 Terawattstunden Kernenergie weg. Bei diesem Tempo braucht es fünf Jahre, um die wegfallende Strommenge der Kernkraft zu ersetzen. Allerdings mit dem erheblichen Nachteil, dass die Strommengen kommen, wenn es der Wind für richtig hält und nicht unbedingt, wenn wir Bedarf haben.

Warum ist die Nachfrage nach Zulassungen für neue Windkraftwerke so gering? – Noch 2014-2016 waren es doppelt soviel pro Jahr. Die Kosten der Windenergie bestehen im Wesentlichen aus Materialkosten und Kapitalkosten. Massiv gestiegene Materialkosten sind eine Folge der weltweit gestiegenen Energiekosten. Die Bestandteile von Windkraftanlagen wie Wälzlager (Stahl), Magneten (Kupfer und Seltene Erden), Rotorflügel (glasfaserverstärkte Kunststoffe) haben sich insbesondere hierzulande so verteuert, dass das Ende des Produktionsstandorts Deutschland nach dem „Aus“ der Solarbranche nun auch für die Windenergie droht. Von den zehn größten Windanlagenherstellern kommen sieben aus China.

Hinzukommt nun ein vervierfachter Kapitalzins, der die Erzeugung von Strom aus Windenergie für 5,88 ct/kWh – das ist die garantierte Einspeisevergütung – nur noch in besonders windreichen Gegenden ermöglicht. Es ist schon absehbar, was die grüne Lobby fordern wird, nachdem die Kernkraftwerke abgeschaltet worden sind: die Erhöhung der garantierten Einspeisevergütung.

Es wird aber am 16. April 2023 wahrscheinlich nicht zum Zusammenbruch der Stromversorgung kommen, denn die Ampel hat ja alle noch verfügbaren Kohlekraftwerke ans Netz gebracht. Durch den Ersatz von Kernenergie durch Kohle steigt die CO₂-Emission in Deutschland deutlich. Das ist das Ergebnis grüner Politik. Es wird zudem zu einer Verfestigung des hohen Preisniveaus in Deutschland kommen, denn Kohlekraftwerke und Gaskraftwerke wurden ja mit den hohen europäischen CO₂-Emissionszertifikaten teuer gemacht. Anstatt in der Zeit der Energiekrise, die CO₂-Zertifikatspreise zu senken, verteilt man lieber Steuergelder an Haushalte und Betriebe.

Wie viele „Doppelwummse“ können wir uns noch leisten? Denn es ist doch erkennbar, dass auf Jahre hinaus die Angebotssituation an Strom in Deutschland mangels Kraftwerkskapazität zu knapp ist. Das wissen die Betriebe, die sich von den Sprüchen der Bundesregierung nicht beeindrucken lassen. 55 Prozent der Rechnungen in der Chemieindustrie werden nicht mehr termingerecht bezahlt. BASF hat Mehrkosten für Energie von 2,2 Milliarden Euro zu verkraften und kündigt Arbeitsplatzabbau an. Die Investitionen in China werden dagegen verstärkt. In China kostet die Kilowattstunde zwei bis drei Cent. Dieses Gefälle kann keine Subventionspolitik ausgleichen, ohne am Ende nicht auch die Staatsfinanzen erodieren zu lassen.

Die einfache Antwort wäre, das Angebot an preiswertem Strom durch Kernkraftwerke, eigene Fracking-Gasförderung und grüne Kohlekraftwerke zu erhöhen. Die Regierung glaubt wirklich, durch Windenergie und Solarstrom, die heute etwa fünf Prozent der Primärenergie darstellen, über die Runden zu kommen. Wenn sich das nicht ändert, ist die Folge eine massive Deindustrialisierung Deutschlands. Ich befürchte, da sind auch einige in der Ampel dabei, die damit überhaupt kein Problem haben.

Renaissance der Kohle

Nicht nur in Deutschland geht es zurück zur Kohle. Auch in Italien, Holland, Griechenland und Ungarn werden stillgelegte Kohlekraftwerke wieder reaktiviert – alles Länder, die auf Gas gesetzt hatten. Schon im ersten Halbjahr erhöhte sich der EU-Kohleverbrauch um zehn Prozent, im zweiten Halbjahr wird das deutlich mehr werden. „Deutschland wird den größten Beitrag des Anstiegs ausmachen“, sagt die Internationale Energieagentur IEA.

Alle diese Länder hatten noch auf der UN-Klimakonferenz von 2021 in Glasgow auf dem Ausstieg für die Kohle bestanden. Erst durch die Intervention von China und Indien einigte man sich auf den Kompromiss des „Phase down“ statt eines „Phase out“. Doch auch in Indien und China sieht es alles andere als nach einem Herunterfahren der Kohle aus. 70 Prozent der weltweiten Kohlenutzung findet in China und Indien statt.

China wird bis 2025 mehr Kohlekraftwerke bauen als die USA im Bestand hat. Indien wird seine Kohleflotte um 25 Prozent bis 2030 erhöhen. Der UN-Weltklimarat hatte gefordert, bis 2030 die CO₂-Emissionen auf die Hälfte zu senken. Aber dreiviertel der CO₂-Emissionen weltweit stammen aus Kohlekraftwerken (knapp 30 Milliarden Tonnen von 40 Milliarden Tonnen insgesamt).

China verbrennt mehr Kohle als der Rest der Welt. Allein im letzten Jahr stiegen die CO₂-Emissionen des Landes nochmals um sechs Prozent. Ein Teil der Emissionen steckt in den Gütern, die China exportiert, z.B. in den Batterien angeblich CO₂-armer E-Autos, die der EU zufolge aus Klimaschutzgründen ab 2035 ausschließlich angeboten werden dürfen. Es werden aber E-Autos mit chinesischen Batterien auf Jahre mehr CO₂ emittieren als Autos mit Verbrennungsmotoren. Die Folgen der starken Nachfrage nach Kohle hat Folgen: Die Kohlepreise sind gegenüber 2020 um das Sechsfache gestiegen.

Wird uns LNG im nächsten Jahr helfen?

Die IEA befürchtet im nächsten Jahr eine 30 Milliarden m³ große Lücke an Gas in Europa, so dass die Auffüllung der Speicher für den übernächsten Winter gefährdet ist. Die geringfügigen zusätzlichen, auf dem Weltmarkt auftretenden Mengen an LNG werden von China zu 85 Prozent abgegriffen werden. China hatte noch in diesem Jahr die Gasimporte um 15 Prozent reduziert, da die chinesische Wirtschaft auf Grund der COVID-Lockdown Politik weniger Gas benötigte.

Es darf auch nicht vergessen werden, dass noch bis August diesen Jahres die Importe russischen Pipelinegases die Speicher mit aufgefüllt haben. IEA-Chef Fatih Birol: „Europa steht im nächsten Winter vor einer noch größeren Herausforderung“. Eines ist sicher: die Gaspreise werden im nächsten Jahr erneut steigen.

All das müsste die Bundesregierung wissen. Ob sie es uns auch wissen lässt, steht nach dem Fälschen der Prüfvermerke aus dem Wirtschaftsministerium zum Kernenergieausstieg durch den Minister selbst auf einem anderen Blatt.

Sie müsste auch wissen, dass nach einem Bericht der norwegischen Rystad Energy, die Herstellung und der Transport von LNG zehnmal soviel CO₂-Emissionsäquivalente freisetzt wie Pipelinegas. Ein wesentlicher Faktor ist die notwendige Energie zur Kühlung des Gases auf -160 Grad Celsius. Bei Ersatz des russischen Erdgases durch LNG-Gas würden 35 Millionen Tonnen CO₂ zusätzlich entstehen, sagt der Bericht. Das sind fast soviel Emissionen wie die 15 Millionen Diesel-PKWs in Deutschland ausstoßen.

Was macht die Politik?

Es könnte die große Stunde von Christian Lindner werden, der einen schnellen Einstieg in das Fracking von Schiefergas in Deutschland gefordert hat. Aber wer glaubt Lindner noch ein Wort? Wenn es zum Konflikt mit den Grünen kommt, wird er erneut umfallen. Er setzt lieber auf die „Freiheitsenergien“ wie die Windkraft. Eine energiepolitisch kluge Bundesregierung hätte längst die grüne Kohlenutzung, d.h. Kohlekraftwerke mit CO₂-Abscheidung (Carbon Capture and Storage, CCS) weiterentwickelt und hätte die Empfehlungen des Berichtes der Fracking-Kommission umgesetzt, der seit Juni 2021 dem Deutschen Bundestag vorliegt und dort nicht diskutiert wird.

Um die Ignoranz des Deutschen Bundestages deutlich zu machen, hat die Kommission ihren Bericht von Juni 2021 im Juni 2022 noch einmal in den Deutschen Bundestag eingebracht, mit der Bemerkung: „Mit der fachlichen Grundlage des bereits vorliegenden Berichtes von 2021 kann nach Einschätzung der Expertenkommission die Prüfung des Deutschen Bundestages zur Angemessenheit des Verbots von Fracking in unkonventionellen Lagerstätten (nach § 13a Absatz 1, Wasserhaushaltsgesetz, WHG) vor­genommen werden.“

Was sagt man zu solcher Ignoranz der Mandatsträger in einer fundamentalen Gas- und Stromkrise? Eine kluge FDP hätte diesen Bericht schon längst zum Mittelpunkt einer energiepolitischen Debatte gemacht.

Aber wir haben keine energiepolitisch kluge Bundesregierung – schon seit zehn Jahren nicht mehr, zumindest seitdem die Kernenergieforschung im Atomgesetz (2011) abgeschafft wurde, CCS in Deutschland verboten wurde (2012) und Fracking (2017) ebenso. Mit CCS könnte man den Trend der verstärkten Kohlenutzung in China und Indien gelassener entgegensehen. Stattdessen ist Energiepolitik seit Merkels Aussteigen aus Kernenergie und Kohle nur mehr ein Glaubensbekenntnis.

Man verließ sich in diesem Glauben auf grüne Berater wie die der AGORA-Energiewende. Die führenden Personen von AGORA sind nun an den Schalthebeln der Macht und zeigen schon nach einem Jahr, dass sie auf dem besten Weg sind, Deutschlands starke Wirtschaft zu ruinieren.

Über den Autor:

Prof. Dr. Fritz Vahrenholt ist promovierter Chemiker, SPD-Politiker, Manager, Wissenschaftler und Buchautor. Seit 1976 arbeitete er unter anderem im Umweltbundesamt, als Staatsrat bei der Umweltbehörde und als Umweltsenator in Hamburg. Er war Vorstand für Erneuerbare Energien der Deutschen Shell AG sowie Gründer und Vorstand des Windenergie-Anlagenbauers REpower Systems.

Seit 1999 ist er Honorarprofessor im Fachbereich Chemie der Universität Hamburg. Sein Bestseller „Seveso ist überall“ (1978) war eines der wirkmächtigsten Bücher in den Anfangsjahren der Umweltbewegung. 2020 erschien sein Bestseller „Unerwünschte Wahrheiten“, 2021 folgte „Unanfechtbar – Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zum Klimaschutz im Faktencheck“. www.vahrenholt.net

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog „Kalte Sonne“ unter dem Titel „Fritz Vahrenholt: Wieviel Doppelwummse brauchen wir?“ (redaktionelle Bearbeitung ts)

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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