Was Täter und Opfer bis heute trennt – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung

Nur selten wird die Frage aufgeworfen, wie das vereinigte Deutschland mit Tätern und Opfern der SED-Diktatur umgegangen ist. Und wie ist die Lage von Unterdrückern und Unterdrückten heute, 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik? Dr. Hubertus Knabe, Historiker und ehemaliger Leiter der Stasi-Gedenkstätten Stiftung Berlin-Hohenschönhausen, ist diesen Fragen nachgegangen.
Titelbild
Hoffnung auf Gerechtigkeit - Sonderbriefmarke zur Wiederherstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990.Foto: Hubertus Knabe
Von 6. Oktober 2020

Vor 30 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt. Doch die Gerechtigkeit, auf die 1990 viele Opfer hofften, ist ausgeblieben. Während die Verantwortlichen für die sozialistische Diktatur zumeist unbestraft blieben, wirkt die Verfolgung ihrer Kritiker bis heute fort.

Viel ist in den letzten Wochen und Monaten über die Unterschiede zwischen Ost und West geschrieben worden. Manche Journalisten und Politiker werden nicht müde, die wirtschaftlichen und sozialen Besonderheiten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR als große politische Ungerechtigkeit zu deuten. Die „strukturelle Benachteiligung Ostdeutschlands“, so erklärte zum Beispiel der Ostbeauftragte der Linksfraktion im Bundestag, Matthias Höhn, stelle „den Osten langfristig auf Zweitklassigkeit“.

Nur selten wird dagegen die Frage aufgeworfen, wie das vereinigte Deutschland mit Tätern und Opfern der SED-Diktatur umgegangen ist. Was geschah mit den Funktionären, die das sozialistische Regime errichtet und betrieben hatten? Wurde das Unrecht an den Verfolgten und Ausgegrenzten wiedergutgemacht? Und wie ist die Lage von Unterdrückern und Unterdrückten heute, 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik?
Unbestrafte Täter

Ein Maßstab, um über Erfolg oder Misserfolg beim Umgang mit überwundenen Diktaturen zu urteilen, ist gemeinhin die Frage, ob die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Im Fall der DDR muss man dies zum größten Teil verneinen.

Unbestraftes Politbüro – SED-Führung mit Walter Ulbricht (M.) und Erich Honecker (1.R.2.v.l.) 1968 (1)

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden etwa 62.000 Ermittlungsverfahren gegen rund 100.000 Personen eingeleitet. Doch nur gut ein Prozent davon kam zur Anklage. Mehr als zwei Drittel dieser Verfahren wurden später wieder eingestellt oder endeten mit Freispruch. Am Ende wurden 289 Personen verurteilt und nur 40 mussten tatsächlich ins Gefängnis.

Der größte Teil des SED-Politbüros ging zum Beispiel straffrei aus. Lediglich sechs der zuletzt 18 Mitglieder mussten eine Haftstrafe antreten, meist kamen sie nach kurzer Zeit wieder frei. Am längsten saßen noch der einstige ZK-Sekretär für Sicherheit, Egon Krenz, und der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler, die beide rund vier Jahre in Haft waren. Stasi-Chef Erich Mielke, der wegen eines Polizistendoppelmordes in der Weimarer Republik zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wurde nach einem Jahr wieder freigelassen. Auch das Verfahren gegen SED-Generalsekretär Erich Honecker wurde nach knapp sechs Monaten eingestellt.

Nicht viel anders gingen die Verfahren gegen Stasi-Offiziere, Spitzel oder prügelnde Gefängniswärter aus. Ein Offizier, ein Wachmann und ein Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes mussten wegen Tötungsdelikten ins Gefängnis, zwei Wärter wegen Gefangenenmisshandlung. Auch von den Richtern und Staatsanwälten kam jeweils nur ein Verantwortlicher für kurze Zeit in Haft. Lediglich bei den Mauerschützen und ihren Kommandeuren liegt die Zahl der Verurteilten etwas höher, 19 von ihnen kamen in den Strafvollzug. Der Grund für diese Bilanz war nicht, dass in der SED-Diktatur so wenig Staatsverbrechen begangen worden waren. Ursache war vielmehr, dass im Einigungsvertrag festgelegt worden war, dass diese nur nach DDR-Recht bestraft werden durften.

Opfer zweiter Klasse

Ein anderes Kriterium, um über den Umgang mit vergangenen Diktaturen zu urteilen, ist die Wiedergutmachung an den Opfern. In Artikel 17 des Einigungsvertrages hieß es dazu, dass ihre Rehabilitierung „mit einer angemessenen Entschädigung zu verbinden“ sei. Aus Sicht vieler Verfolgter kann davon jedoch keine Rede sein.

Das Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz sah für ehemalige politische Gefangene eine Entschädigung in Höhe von umgerechnet etwa 150 Euro pro Monat Haft vor. Erst im Jahr 2000 wurde der Betrag auf die sonst in der Bundesrepublik übliche Haftentschädigung verdoppelt. Für fünf Jahre Bautzen gab es demnach gut 18.000 Euro.

Wer arbeitsunfähig war, hatte außerdem Anspruch auf eine Beschädigtenversorgung – allerdings nur, wenn er den kausalen Zusammenhang zwischen Krankheit und Haft nachweisen konnte. Weil dies zumeist nicht möglich war, wurden über 95 Prozent der Anträge abgelehnt. Das Unrechtsbereinigungsgesetz wurde deshalb 2007 um eine monatliche Opferrente von derzeit 330 Euro ergänzt. Voraussetzung ist, dass die Betroffenen mindestens 90 Tage in Haft waren und ihr Einkommen nur geringfügig über 1000 Euro liegt.

Zellenflur der Untersuchungshaftanstalt der Stasi-Bezirksverwaltung in Erfurt (2)

Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz regelte die verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung der Verfolgten. Entscheidungen von DDR-Organen, die durch den Einigungsvertrag in ganz Deutschland Gültigkeit erlangt hatten, konnten dadurch aufgehoben und als Verfolgung gewertet werden. Zudem wurde die Zeit im Gefängnis jetzt bei der Rentenberechnung mitgezählt. Die Leistungen blieben jedoch weit hinter denen für NS-Opfer zurück. Verdienstausfälle wurden ebenso wenig entschädigt wie Zwangsarbeit oder ein verhinderter beruflicher Aufstieg. SED-Verfolgte sahen sich deshalb oft als „Opfer zweiter Klasse“.

Dies gilt auch für den Bereich der Vermögensverluste. Während die Bundesregierung akribisch die Provenienz von Kunstwerken aus der NS-Zeit erforschen lässt, hat sie die systematischen Enteignungen in den ersten Nachkriegsjahren allesamt für unabänderlich erklärt. Auch für die Zeit danach wurde festgelegt, dass enteigneter Besitz nur dann restituiert wird, wenn er entschädigungslos verstaatlicht worden war. Vergeblich führten viele Betroffene einen jahrelangen Kampf, um abgepresste oder unter Wert verkaufte Häuser und Grundstücke wiederzuerhalten.

30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die meisten Opfer des SED-Regimes im Rentenalter oder stehen kurz davor. Wenn sie ihren Rentenbescheid öffnen, bekommen sie gleichsam die Quittung für ihr früheres Aufbegehren präsentiert. Denn wer sich weigerte, der FDJ beizutreten oder an der Jugendweihe teilzunehmen, durfte in der DDR meist weder Abitur machen noch studieren. Wer höher aufsteigen wollte, musste in der Regel der SED beitreten. Die Unangepassten hatten sich mit einer niedrigen beruflichen Position zu begnügen – und bekommen heute entsprechend geringe Renten. Für die 3,6 Millionen Übersiedler, Flüchtlinge und Freigekauften bedeutete die Wiedervereinigung sogar eine Verschlechterung, weil ihre westdeutschen Ersatzrenten durch ihre alten DDR-Rentenansprüche ersetzt wurden.
Am 13. April 2016 demonstrieren Opfer der SED-Diktatur gegen die Aberkennung ihrer Rentenansprüche nach dem Fremdrentengesetz.

Fortwirkende Privilegien

Bei den ehemaligen Funktionären des Partei- und Staatsapparates der DDR ist es genau umgekehrt. Ihre Mitwirkung an der SED-Diktatur macht sich für sie heute sogar mehr denn je bezahlt. Weil sie in der DDR überdurchschnittlich gut verdienten und außerdem besser rentenversichert waren, erhalten sie inzwischen großzügige Altersbezüge – in Euro und nicht mehr in DDR-Mark, versteht sich. Ihre üppigen Rentenansprüche wurden 1990 in die allgemeine Rentenversicherung überführt. Da in der DDR meist beide Ehepartner arbeiteten, stehen sie häufig sogar besser da als westdeutsche Staatsangestellte.

Offiziere des Staatssicherheitsdienstes zum Beispiel – die besonders gut bezahlt wurden – erhielten in der DDR 75 Prozent ihres letzten Gehaltes als Altersrente. Zwar beschloss die frei gewählte Volkskammer 1990, die Funktionärsrenten auf maximal 2010 D-Mark zu begrenzen, und auch der Bundestag legte fest, den übermäßig entlohnten Mitarbeitern des Partei- und Staatsapparates nur eine DDR-Durchschnittsrente zu zahlen. Doch weil das Bundesverfassungsgericht der Meinung war, die Rentenansprüche der SED-Funktionäre stünden unter dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes, hob es fast alle Kappungen auf.

Auf diese Weise kam es zu der paradoxen Situation, dass der Bundestag 2001 die Renten für ehemalige Stasi-Mitarbeiter rückwirkend um 30 Prozent anheben musste. Für 85 000 Spitzenfunktionäre wurden die Rentengrenzen völlig abgeschafft. Die Witwe von SED-Chef Erich Honecker etwa erhielt damals eine Rentenerhöhung von 400 D-Mark pro Monat plus eine Nachzahlung von 45 000 D-Mark. Bis auf die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes und ein paar hundert Funktionäre, die der Stasi einst Anweisungen erteilten, bekommen die Eliten des SED-Staates inzwischen alle wieder ihre privilegierten Altersbezüge.

45 000 D-Mark Nachzahlung – DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker in Potsdam 1988 (3)

All dies hat bei vielen Opfern zu Verbitterung geführt. Die Gerechtigkeit, die sie sich vom Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erhofften, ist größtenteils ausgeblieben. Bei aller Freude über das Ende des sozialistischen Regimes bleibt für sie ein bitterer Nachgeschmack. Denn während die Unterschiede zwischen Ost und West in Deutschland immer weniger zu spüren sind, wird sich an der Ungleichbehandlung von Opfern und Tätern wohl nichts mehr ändern.

Der Text erschien zuerst in: Berliner Morgenpost vom 2. Oktober 2020

Der Autor Dr. Hubertus Knabe, Historiker, war von 2001 bis 2019 Leiter der Stasi-Gedenkstätten Stiftung Berlin-Hohenschönhausen. Diese symbolisiert wie kaum ein anderer Ort die politische Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Seine Website www.hubertus-knabe.de

(1) Bundesarchiv, Bild 183-G0726-0206-001 / Junge, Peter Heinz / CC-BY-SA 3.0
(2) Felixkrater / CC BY-SA 4.0
(3) Bundesarchiv, Bild 183-1988-1019-031 / CC-BY-SA 3.0

 



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