Ein Tag unter Migranten auf Lesbos nach Brand in Moria: Videobericht von Rebecca Sommer (Teil I)

Der aktuelle Zustand auf Lesbos wird beschrieben von Gastautorin Rebecca Sommer, die sich seit Jahren für Menschenrechte und Völkerrecht engagiert. Vor zwei Monaten reiste sie nach Lesbos, um die dortige Situation zu beobachten.
Titelbild
Flüchtlinge und Migranten in Kara Tepe auf Lesbos, GriechenlandFoto: Rebecca Sommer
Von 18. September 2020

Videobericht von Rebecca Sommer: Ein Tag unter asylsuchenden Migranten – Teil I (veröffentlicht am   18.09.2020) aus dem Frontbericht Teil III bei www.reitschuster.de

Lesbos, 16.9.2020: Vorgestern war ich den ganzen Tag mit einigen afghanischen Familien im abgeriegelten Riesengebiet um das Familienaufnahmelager „Kara Tepe“ zusammen, die ich seit zwei Monaten hier im abgebrannten Moria Camp kennengelernt habe und denen ich von Herzen zugetan bin. Was nicht bedeutet, dass sie einen Asylgrund haben, auch wenn es mir für sie echt leid tut.

Einige haben trotzdem schon Asyl erhalten, aber stecken hier fest wegen Corona oder anderen Sachen, andere wurden schon mehrfach abgelehnt, andere stecken noch mittendrin im Asylverfahren. Jeder hat seine tragische Geschichte, sei es auch nur die, umsonst Geld ausgegeben -, Haus und Hof oder Geschäft verlassen zu haben, sprich, bis nach Griechenland gekommen zu sein und nun hier festzustecken.

Ich hatte vorab angekündigt ihre Wäsche abzuholen, um sie in die Waschmaschine zu stecken, weil doch zur Zeit noch keine Waschräume hier stehen. Und ich wollte mir auch ein besseres Bild von der Realität vor Ort machen.

Die Hauptstrasse, die von der Hauptstadt Mythilini hinausführend am Meer entlang auf die Türkei blickend zum anderen Teil der Insel führt, ist kurz nach dem Verlassen der Stadt für mich und die Einheimischen abgeriegelt. Man muss einen riesigen Bogen bis zu einem Golf und dann wieder in der Kurve bis zum Moria-Dorf und hindurch fahren, um zum abgeriegelten Gebiet von hinten an das Kara Tepe Gebiet und die hintere Absperrung zu gelangen. Was die Einheimischen Zeit und Benzin kostet. (Seit gestern darf man gar nicht mehr hinein.)

Militär muss Gelände für Familienlager räumen

Um die abgeriegelte Strasse herum befindet sich ein Riesengebiet, wo die Migranten sich frei bewegen können, bis zum Meer hin und ins Inland gehend, wo nun die ganzen Migranten verstreut ihre Behausungen aufgebaut haben, und wo das schon länger bestehende Familienflüchtlingslager Kara Tepe auf einem ehemaligen Militärgelände direkt am Meer liegt.

Das Militär musste, trotz der grossen Gefahr und ständigen Aggression, die ständig von der Türkei ausgeht, und der strategisch günstigen Lage, das Gelände räumen (samt Geheimdienst), um die bestehende Infrastruktur den Flüchtlingsfamilien zur Verfügung zu stellen. Nun liegt das Familienlager an der Meeresseite von der Strasse, an der Hauptstrasse, die nun von den Migranten u.a. bewohnt, bzw. belagert wird. An dieser stehen Geschäfte, Lidl & Co, Lagerflächen, dazwischen Ruinen, Grosshandel, und alles mögliche an Privat- oder Geschäftsgebäuden. Das trifft auch für die Seite zum Landesinneren hin zu, weg von der Strasse bis hin zum Dorf Moria.

Steinhäuschen noch aus Uropas Zeiten

Hügelige unbebaute Landschaften dazwischen, Olivenhaine, die den Einheimischen gehören, mit kleinen uralten Steinhäuschen noch aus Uropas Zeiten. Ziegen, Esel, angepflanzte Gärten dazwischen. Ein alter Mann hinter einem Zaun, der mit seinen 10 Hunden im Garten Wache sitzt. Mit Eisenrohr am Tisch angelehnt.

Vom Moria-Dorf, in Richtung der abgeriegelten Hauptstrasse, immer mehr Müll. Müll. Noch mehr Müll. Es macht mich wütend, es macht mich beklommen. Wann werden die Dorfleute endlich Ruhe bekommen? Diese sitzen an strategischen Punkten und schieben Wache in den Hügeln, wie auch die Leute vom Nachbardort Panajuda.

Vereinzelte Gruppen von Migranten am Strassenrand, eine Gruppe klettert gerade über einen Zaun zu einem Haus. Wieso laufen die hier alle so frei herum? Was macht bitteschön die Polizei, um die Einheimischen und nicht nur die Bewohner der Inselhauptstadt zu schützen?

Zur absoluten Demütigung der Moria-Dorfgemeinde wurde ihre eh schon ständig geschändete Kapelle, nahe am ehemaligen, abgefackelten Moria-Camp, wo ich noch zur Zeit davor Talibanmänner mit Schusswaffe habe sitzen sehen, von irgendwelchen NGOs und Migranten besetzt. Zelte drumherum. Alle religiösen Dinge nun komplett entfernt, eine Hülle, einst der Stolz der Dorfleute, wo sie drinnen gebetet und die Kapelle liebevoll in Stand gehalten haben.

Als die Dorfbewohner die Migranten entfernen wollten, wurden sie mit Messern und einem Schussgerät (keine Ahnung, wie das heisst) angegriffen. Die Polizei macht nichts, laut dieser können die Migranten anscheinend da bleiben, weil es wohl irgendwas mit einer NGO zu tun hat und so geregelt worden sei. Keiner weiss Genaueres. Ich werde mich morgen noch einmal genauer informieren.

Das Leben der Einheimischen

Die Dorfleute, alle schon mit Gerichtsverfahren am Hals, müssen aufpassen. So wie bei uns ist erst der Einheimische dran, den das Gesetz in voller Härte trifft. Der Neuhinzugezogene bekommt auch hier auf der Insel einen fetten Migrationsbonus und kann oft machen, was er will. Häuser und Kirchen besetzen, stehlen, hauen und stechen, nach dem Motto –  da kann man nichts machen, das ist bei denen so üblich.

Einer der Moria-Dorfbewohner, die sich hochgradig mutig und dickköpfig gegen die Verfestigung und Ausweitung des Moriacamps gegen die Regierung gestellt haben – man schaue mein erstes Video an, wie sie auf das Auto des Ministers für Migration draufhauen und er schnell wegdüst – wurde beim Protest gegen die Präsidentin von Griechenland, die ein Krankenhaus dort einweihen wollte, angeschossen mit einem Gasgewehr (ich glaube, so heißt es). Wegen seinem auf Facebook hochgeladenem Bild im Krankenhaus, und seinem Begleittext, dass es die Polizei war, die ihn verletzte, wurde er verhaftet und sass mit den anderen eine Nacht im Knast und hat deswegen nun ein Strafverfahren am Hals. So berichtete er es mir.

Es sind über Hundert, wenn nicht weitaus mehr, darunter Schwerst-Kriminelle, beim Brand des Moria-Camps von der Polizei aus dem Gewahrsam freigelassen worden, damit sie nicht verbrennen, so berichtete mir gestern einer der Sicherheitskräfte. Die laufen jetzt auch hier frei herum.

Die 35 Corona-Infizierten, wegen denen der Brand überhaupt angefangen haben soll, weil die sich dagegen verwahrten, in Quarantäne zu gehen, sind auch noch nicht gefunden worden.

Keine 13.000 Leute im neuen Kara Tepe Gebiet

In Kara Tepes eigentlichem Absperrgebiet ankommen, an der Strasse, sah ich gleich einen „Ärzte ohne Grenzen“-Transporterwagen mit kranken Menschen, die abgeholt wurden.

Eine Essensausgabe-Schlange wurde gerade gebildet, eine für die Frauen, alle mit Kopftuch, ausser einigen Afrikanerinnen, eine Reihe nur für die Männer. Endlos lang, trotzdem kann man sofort sehen, es sind keine 13.000 Leute im neuen Kara Tepe Gebiet.

Das deckt sich mit den Aussagen der Inselbewohner, von denen viele in kleinen Gruppen Tag und Nacht Wache schieben, und mit teils bewaffneten Migrantentruppen zusammentreffen, welche u.a. in Privathäuser einbrechen und generell die ganze Gegend unsicher machen. Und andere, die sich einfach nur verstecken, weil sie nicht nach Kara Tepe wollen.

Dass die Essensausgabeschlange in nur zwei Reihen erfolgt, hat einen Grund. Kaum ein NGO-Volontär traut sich nämlich, diese schiebenden und teils hochgradig aggressiv werdenden (hauptsächlich) Männer in Schach zu halten. Das sagt doch was aus, oder? Generell haben die meisten Helfer und NGOs Angst gehabt, alleine in den wilden Teil des ehemaligen Moria-Camp zu gehen.

Dass es wieder Randale wegen der Essensausgabe gab, weil einstige Helfer unter den Migranten nun als Essensverteiler von den NGOs abgelehnt wurden, kann ich sogar verstehen. Ich wäre darüber auch sauer. Das Essen ist dasselbe wie immer, wie schon zu Moria-Camp Zeiten.

Ich traf einen jungen Afghanen, F., dem ich bei seinem Asylwiderspruch helfen werde. Er hat eine Frist, und die ist bald abgelaufen. Ich mag ihn einfach. Seine Behausung auf der Strasse hat er selber gebaut, Schilfrohrstöcke mit Plastiktüten zusammengeknotet.

F. sagt mir dann vor der laufenden Kamera, dass ihm die Campbewohner selber sagten, dass sie das Camp abgefackelt haben. „Das Camp war nicht gut, wir wollen Freiheit, wir werden behandelt wie die Tiere.“ Freiheit will ich auch, wer will das nicht? Deshalb fackle ich aber nicht meine Wohnung und die meiner Nachbarn ab, obwohl ich lieber woanders wohnen möchte. Schlussendlich geht es doch nur darum, dass alle weiterziehen möchten und viele der Migranten dachten, dass sie durch das Feuer Griechenland und Europa erpressen können.

Tun sie ja auch.

Auch vergass F., dass ein jeder der Camp-Bewohner überall hin konnte, sich frei bewegen konnte, es also kein Gefängnis war. Vorher lebte er mit einer sehr netten Familie im Camp selber zusammen. Die ist jetzt weiter oben. Dahin gehen wir, wir versammeln uns mit mehreren Familien. Die Frauen und Mädchen stehen schüchtern hinter mir, während die Männer und Jungs auf dicken sauberen Armeedecken im Kreis sitzen.

Wie schon in den Flüchtlingsheimen in Berlin erkläre ich, auf die Decken klopfend: Wir sind hier auf europäischem Boden, wo Männer und Frauen gleichwertig zusammensitzen. Sie sollen sich auch dazugesellen, so machen wir das hier bei uns.

Alle wollen wissen, wie geht es weiter. „Wann haben wir unseren neuen Zelte? Wo werden die stehen? Wie lange sollen wir hier bleiben? Nimmt uns Deutschland, wie wir hören? Unsere Kinder haben keine Schulen, benötigen Bildung. Die Essensausgabe dauert Stunden. Das Essen schmecket nicht. Wir haben nur für einen Tag Wasser bekommen, andere bekamen ganz viele Flaschen. Wann kommen die Toiletten, Duschen, Waschräume?“

Zur Zeit gehen alle in die Mutter Natur. Peinlich und/oder gefährlich vor allem für die Mädchen und Frauen. Sie befürchten, dass das neue Camp strenger, organisierter werden wird, sie also weniger Möglichkeiten haben würden z.B. unterzutauchen, um einen neuen Antrag zu stellen. Sie haben Angst, nicht mehr raus zu können. Was aber nicht passieren wird.

Asylgewährung zerreißt Familien – Rückreise wird bezahlt

Ein Vater hat schon Asyl bekommen, zusammen mit seiner Frau und seinen zwei minderjährigen Töchtern. Drei erwachsene Söhne wurden allerdings abgelehnt. Ich bespreche mit ihm hin- und her, was das zu bedeuten hat. Entweder er geht seinen Weg hier weiter, in das Land seiner Wünsche, denn das ist die Realität in Europa, oder er kehrt zurück nach Afghanistan mit der gesamten Familie, denn alle drei Söhne haben keine Chance mehr auf Asyl, laut ihren Unterlagen. Er will sich das überlegen, schlussendlich gibt es ja auch 2000 Euro für Rückkehrer und einen Freiflug bis nach Hause. Die Tage gibt er mir Bescheid, ich werde seiner Familie dann helfen, bei den Formularen.

Ein anderer, mit bildschöner Mutter, spricht schon ein bisschen Deutsch, das hat er hier im Deutschunterricht der NGOs gelernt. Beide haben Asyl erhalten, stecken hier nur fest wegen Corona. Wir machen zum Schluss Gruppenfotos, ich ziehe mit F. weiter.

Ich sehe, wie Menschen an einem dicken Wasserschlauch mit Löchern ihre Wasserflaschen vollfüllen. Ein schönes Privathaus steht da, belagert von Migranten. „Das nutzen wir als Toilette“, so erklärt mir F. „Der arme Besitzer“, begehre ich auf. „Es ist nicht unsere Schuld“ sagt F. darauf. Beide haben wir recht.

Besetzte Gebäude, Ruinen, Müll wohin man schaut

Überall sind Gebäude besetzt worden. Der Lidl, bei dem ich noch vor kurzem einkaufte, ist zugeschlossen und verrammelt, davor Horden an Leuten, Zelten, provisorischen Bauten. Drinnen entsteht nun ein Riesenschaden, alles wird dort vergammeln und schlecht werden. Alles hat was extrem Gespenstisches, besetzte Gebäude, Ruinen, überall in den Gebäuden sind Männer, Müll wohin man schaut. Wir gehen durch Natur, ebenfalls voll mit Abfall und Plastik, und erreichen das Meer.

Die wunderschöne Bucht ist ebenfalls zugemüllt, im Wasser rollen Hunderte an Wasserflaschen und anderem Weggeschmissenem, dazwischen baden einige Menschen. Einige weiter abseits, finstere Gesellen. Hier bleibe ich nicht!

F. und ich setzen uns etwas abseits, mitten in der Natur und etwas weg vom Strand. Wir arbeiten über zwei Stunden, indem ich mit ihm ein Video-Interview mache wie bei UNHCR üblich. Dieses werde ich transkribieren und für ihn seinen Widerspruch gegen seinen zweiten angelehnten Asylantrag einreichen. Denn er hat in seinem griechischen Interview fast nichts von dem erzählt, was ihm wirklich zum Asyl verhelfen könnte. Auch berate ich ihn, was er an Belegen zu organisieren hat.

F. ist, wie auch die Familien, genau das Problem für mich. Lieb sind sie und herzlich untereinander. Sie sind keine Jihadisten, noch ist F. überhaupt ein Muslim, im Gegenteil. Seit der Taliban ihn entführte und trainierte, ist er gegen den Islam.

Genau betrachtet könnten viele in ihre Heimat zurückkehren

F. hätte nur weg von seinem Dorf und raus aus dem Talibangebiet gehen müssen. Aber durch diesen Pullfaktor einer verfehlten Asyl und Migrationspolitik der EU, wo der eine Asyl erhält, der andere aber nicht, ist es einfach ein Lotteriespiel, und genau deshalb kommen die Leute.

Zur Autorin: Rebecca Sommer ist eine internationale, seit 2012 in Berlin sesshafte deutsche Menschenrechtlerin. Bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland 2012 engagierte sie sich mit ihrem speziellen beratenden Status bei den Vereinten Nationen (ECOSOC) im UN-Hauptquartier als auch in Genf für Menschenrechte, mit speziellem Fokus auf Indigene Völker und Völkerrecht.

Dieser Artikel erschien zuerst bei www.reitschuster.de

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