Österreich: Sonnenkönig 2.0 voraus? Kurz will auf den Spuren Kreiskys wandeln

Der Sozialist Bruno Kreisky war der bislang am längsten amtierende Bundeskanzler der Republik Österreich. Er regierte bis 1983, davon 12 Jahre lang mit absoluter Mehrheit. Sein erstes Kabinett war jedoch eine Minderheitsregierung. Eine solche fasst jetzt auch Sebastian Kurz ins Auge.
Titelbild
Sebastian Kurz bei einer Wahlveranstaltung in Wien im Oktober 2017.Foto: Thomas Kronsteiner/Getty Images
Von 28. Juni 2019

Für Aufsehen in Österreichs Politik und Medienlandschaft hat ÖVP-Kanzlerkandidat Sebastian Kurz mit Äußerungen im Sommergespräch des Senders „Puls 4“ am Mittwochabend (26.6.) gesorgt. Der vor einem Monat von einer Parlamentsmehrheit im Nationalrat abgewählte Bundeskanzler erklärte im Zusammenhang mit möglichen Regierungsbündnissen nach der Nationalratswahl am 29. September, er könne sich auch „eine Minderheitsregierung nach skandinavischem Vorbild gut vorstellen“.

Nach einem solchen Szenario würden nur die ÖVP und allenfalls dieser nahestehende parteilose Minister dem Kabinett angehören. Mehrheiten für Gesetzesvorhaben müsste die Regierung sich dann in jedem einzelnen Fall aufs Neue selbst organisieren. Um nicht permanente Misstrauensanträge gegen Kabinettsmitglieder befürchten zu müssen, wären die Bürgerlich-Konservativen zusätzlich gezwungen, mit einer oder mehreren Parteien einen Tolerierungspakt zu schließen.

Kurz hofft eigenen Angaben zufolge darauf, auf diesem Wege beispielsweise Gesetze im Bereich der Umweltpolitik mit den Grünen, solche zur Migrationspolitik mit der FPÖ und klassische Sozialpartneragenden mit der SPÖ zusammen auf den Weg bringen zu können.

ÖVP kann jüngsten Umfragen zufolge mit 38 Prozent rechnen

Jüngsten Umfragen zufolge kann die ÖVP ihren Vorsprung auf die übrigen Parlamentsparteien deutlich ausbauen, mit 38 Prozent ist die Partei jedoch deutlich von einer absoluten Mehrheit entfernt – zumal der Verbleib der linksliberalen Neos im Parlament ebenso gesichert zu sein scheint wie die Rückkehr der Grünen. Demgegenüber wird die linksextreme Liste „Jetzt“, die 2017 noch als „Liste Peter Pilz“ in den Nationalrat eingezogen war, mit nur noch einem Prozent ebenso in der Versenkung verschwinden wie zuvor das „Team Stronach“. Während von dessen Aus die FPÖ profitieren konnte, scheinen Pilz-Wähler von 2017 nun wieder zu den Grünen zurückzukehren.

Die Option Minderheitskabinett ins Spiel zu bringen, scheint für Kurz eine Flucht nach vorne zu sein. Auf diese Weise will er das Potenzial der ÖVP maximal ausschöpfen, um auf der Grundlage eines möglichst klaren Vorsprungs stärkeren Druck auf mögliche Koalitionspartner entfalten zu können. Dass sich die derzeit amtierende Expertenregierung unter der ehemaligen Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein in Zurückhaltung übt und sich bis dato keine offenkundigen Fehler geleistet hat, trägt möglicherweise dazu bei, die Offenheit für andere als herkömmliche Regierungskonstellationen auch in der Bevölkerung zu vergrößern.

Vor allem aber mag Kurz keine potenziellen Wähler durch Koalitionsaussagen verprellen. Eine Neuauflage der türkis-blauen Koalition hätte parlamentarisch nach wie vor eine deutliche Mehrheit – wenn sich auch die Gewichte innerhalb leicht zu Gunsten der ÖVP verschieben würden. Sich zu einer solchen Koalition zu bekennen, würde jedoch eine schiefe Optik ergeben, nachdem Kurz selbst infolge des Ibiza-Videos die FPÖ insgesamt als nicht verlässlichen Partner dargestellt hatte.

Kreiskys Minderheitenkabinett wurde von der FPÖ toleriert

Ein Bekenntnis zu einem Bündnis mit den linken Parteien Grüne und Neos würde hingegen der FPÖ bereits im Wahlkampf nutzen und konservative Wählerschichten der ÖVP verunsichern.

In der Zweiten Republik hat es bislang erst einmal ein Minderheitenkabinett gegeben. Dies war nach der Nationalratswahl 1970 der Fall, als die ÖVP ihre absolute Mehrheit verloren hatte, die SPÖ unter Bruno Kreisky jedoch keine eigene erreichen konnte. Nachdem rot-schwarze Verhandlungen gescheitert waren, entschied sich Kreisky dazu, die FPÖ zu einem Tolerierungsmodell zu bewegen.

Die Freiheitlichen hatten davon zwei entscheidende Vorteile: Zum einen versprach ihnen die SPÖ ein günstigeres Wahlrecht, zum anderen konnte die Partei, die mit dem früheren SS-Obersturmführer Friedrich Peter als Spitzenkandidat angetreten war und die aus dem VdU, dem ehemaligen Sammelbecken bis 1949 vom Wahlrecht ausgeschlossener früherer NSDAP-Angehöriger, hervorgegangen war, sich endgültig als vollständig akzeptierte politische Kraft im Nachkriegsösterreich etablieren. Deshalb entschloss sich die Partei dazu, auf Kreiskys Angebot einzugehen. Die Minderheitsregierung hielt 562 Tage lang – von April 1970 bis nach den vorgezogenen Nationalratswahlen 1971, bei denen die SPÖ eine absolute Mehrheit gewinnen konnte.

Übrige Parteien haben bereits abgewunken

Der Politikberater Thomas Hofer und der Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer halten, wie die „Wiener Zeitung“ berichtet, eine Neuauflage dieser Konstellation für unwahrscheinlich. Beide gehen von einer taktisch motivierten Ansage aus. „Die Frage ist: Welche der Oppositionsparteien hätte Interesse daran, in ihrem jeweiligen Bereich dem Bundeskanzler Kurz ein Geschenk nach dem anderen zu machen? Wer würde die Lorbeeren einheimsen? Wohl nur Sebastian Kurz“, meint Hofer.

Bachmayer meinte, die anderen Parteien würden sich in einer solchen Konstellation „relativ wenig partnerschaftlich verhalten […], und das ist nicht etwas, was man sich als Regierungschef herbeiwünscht“.

FPÖ, SPÖ und Neos haben dem „Standard“ zufolge schon jetzt einem solchen Modell eine Absage erteilt. Die Grünen gaben bislang noch kein Statement ab. FPÖ-Chef Norbert Hofer nennt es „nicht vorstellbar“, dass die ÖVP „nicht mit einem Drittel der Stimmen 100 Prozent der Macht“ ausübe. Er will „den erfolgreichen Weg der Regierungsarbeit fortsetzen“, den Türkis-Blau seit der Wahl 2017 beschritten habe.

SPÖ-Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda erklärte, es gehe jetzt „um einen Wettstreit der besten Ideen und Konzepte im Rahmen eines fairen Wahlkampfs und ganz sicher nicht darum, über die Wähler und Wählerinnen hinweg über Minderheitsregierungen und Regierungskonstellationen zu philosophieren“.

Neos-Geschäftsführer Nikola Donig erklärte: „Minderheitsregierungen, wie sie in Skandinavien üblich sind, setzen auf ehrlichen Dialog, echte Anliegen und Arbeit auf Augenhöhe“. Zudem seien sie mit „extrem viel Arbeit im Parlament verbunden“. Von Sebastian Kurz habe man bislang einen Stil erlebt, der beidem zuwiderlaufe.



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