Bald „gezielte Tötungen“? Verfassungsschutz warnt vor Abgleiten des Linksextremismus in Terrorismus

In einer 22-seitigen Analyse hält das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Herausbildung terroristischer Strukturen im Linksextremismus für möglich. Anders als im Fall der RAF in den 1970er Jahren steht zu befürchten, dass eine Neuauflage weniger isoliert agieren würde.
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Linksextreme Demo am 1. Mai 2017 in Berlin.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 22. Juni 2020

Am Beginn der linksterroristischen RAF stand der Übergang von der „Gewalt gegen Sachen“, die in zahlreichen linksextremen Gruppen im Umfeld der Studentenrevolte von 1968 Debattengegenstand war, zu gezielten Übergriffen gegen Menschen. Heute sieht das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in der linksextremistischen Szene ähnliche Radikalisierungstendenzen. In einer 22-seitigen Analyse hält man es für möglich, dass sich „terroristische Strukturen im Linksextremismus“ herausbilden.

Wie die „Welt am Sonntag“ berichtet, zeichnet sich eine „deutliche Radikalisierung“ in Teilen der gewaltbereiten linksextremistischen Szene ab. Die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, sinke, die Gewalt selbst werde persönlicher.

„Schwere Körperverletzungen der Opfer bis hin zum möglichen Tod werden billigend in Kauf genommen“, heißt es in der Analyse. An die Stelle der „Massenmilitanz“ seien „klandestine Kleingruppenaktionen“ getreten. Opfer würden „gezielt ausgesucht“ und „in ihrem persönlichen Rückzugsraum angegriffen“.

Stillschweigende Zustimmung für gezielte Gewalt

Ein Beispiel dafür sei die Prügelattacke auf die Mitarbeiterin eines Immobilienbüros in Leipzig, die sich im Vorjahr ereignet hatte. Waren zuvor tatsächliche oder angebliche Rechtsextreme oder die Polizei Ziele gezielter und mit erheblicher Gewalt ausgeführter Angriffe, gelten privat in verhassten Bereichen wie der Immobilienbranche Beschäftigte mittlerweile nicht mehr als „Unbeteiligte“, sondern vielmehr als willkommene „weiche Ziele“, die auf keine verstärkten Schutzmaßnahmen bauen könnten.

Widerspruch gebe es zu dieser Vorgehensweise im Milieu keine, vielmehr machten die ausbleibenden Debatten den Eindruck, als könne man innerhalb der linksextremen Gewaltszene auf stillschweigende Zustimmung zählen.

In Leipzig – neben Hamburg, Berlin und NRW eine Hochburg der linksextremen Szene – waren dem Angriff auf die Prokuristin mehrere Anschläge auf Baukräne vorangegangen. Einer der Anschläge zog einen Sachschaden von etwa 20 Millionen Euro nach sich. Bereits dabei wurde eine mögliche Lebensgefahr für Anwohner billigend in Kauf genommen.

Geht der militante Linksextremismus erneut den Weg der RAF?

In mehreren Fällen waren zudem Privathäuser und Autos politischer Gegner angegriffen worden – hauptsächlich aus der AfD, aber auch aus etablierten Parteien wie CDU, SPD oder FDP. Im Dezember des Vorjahres wurde beispielsweise der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD) angegriffen, als dieser sein Kind mit dem Auto in die Kita brachte.

Auch die späteren RAF-Kader Andreas Baader und Gudrun Ensslin hatten mit Brandanschlägen auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt am Main am 2. April 1968 mithilfe von Zeitzündern, die mehr als 600.000 D-Mark an Sachschaden verursacht hatten, ihre Terrorkarriere begonnen. Wenig später gehörten Entführungen und Mord zum Standardrepertoire der Linksterroristen.

Der Verfassungsschutz hält auch jetzt in der linksextremen Szene einen Übergang von der Gewalt gegen Sachen mit möglicher Gefährdung von Menschen hin zur gezielten Gewalt gegen Menschen für möglich. Zwischen beidem werde nicht mehr unterschieden, die Intensität der Gewalt habe sich erhöht. „Scheinbar ,rote Linien‘ würden überschritten“, heißt es in der Analyse, auch „der Schritt zur gezielten Tötung eines politischen Gegners“ sei „nicht mehr völlig undenkbar“.

Bröckelnder antitotalitärer Konsens

Als fraglich erscheint, inwieweit ein neuer Linksterrorismus auf ein breiteres Sympathisantenumfeld zählen könnte als die RAF in den 1970er Jahren. Diese sah mit dem Augenblick der Aufnahme des terroristischen Kampfes eine breite Front der Ablehnung gegen sich und galt als weithin isoliert. Nicht nur in der „Arbeiterklasse“, als deren vermeintliche Avantgarde sie sich zu inszenieren suchte, fand sie keinerlei Rückhalt, auch Wortführer und Ideologen der Studentenbewegung wie Rudi Dutschke oder Herbert Marcuse gingen auf Distanz. Die SPD unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zeigte sich gegenüber dem Linksterrorismus kompromisslos.

Mittlerweile scheinen sich die Fronten doch spürbar verschoben zu haben. Der antitotalitäre Grundkonsens der alten Bundesrepublik, in dem Linksextremismus in gleicher Weise geächtet wurde wie jener von rechts, wird bis in die Reihen der SPD hinein infrage gestellt. Erst kürzlich im Zusammenhang mit dem AfD-Antrag im Bundestag, ein Verbot der „Antifa“ prüfen zu lassen, kritisierte die SPD-Fraktion im Innenausschuss die „Hufeisentheorie“.

Als US-Präsident Donald Trump eine Einstufung der Antifa als Terrororganisation ankündigte, bekannten sich unter anderem SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken und CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz demonstrativ zum „Antifaschismus“. Auch wenn beide später konkretisierten, damit eine „politische Haltung“ gemeint und nichts mit linksextremen Gewalttätern gemein haben zu wollen, konnte eine derartige Erklärung im gegebenen Kontext ohne Weiteres als Verharmlosung der gewalttätigen Linkstotalitaristen aufgefasst werden.

Medien hofieren den gewaltbereiten Linksextremismus

In den Medien werden Linksextremisten teils noch offener hofiert. Im „Spiegel“ nennt Margarete Stokowski die Existenz eines linken Mobs ein „Märchen“ und meint, es könne „gar nicht genug Antifa geben“. In der ehemals bürgerlich-konservativen „Welt“ würdigte erst kürzlich Deniz Yücel Antifa-Gruppen als „Zivilgesellschaft“ und „Selbsthilfe“ – eine Argumentation, die regelmäßig auch in den Reihen von Linkspartei und Grünen anzutreffen ist. Bereits 2014 bedankte sich Sebastian Leber im „Tagesspiegel“ mit einem eigenen Artikel bei der Antifa dafür, dass diese dafür sorge, dass „in meinem Kiez keine Nazis die Meinungshoheit übernehmen“.

Bereits im Herbst des Vorjahres kritisierte CDU-Innenexperte Christopher Vries die weit verbreitete Milde und Naivität gegenüber Linksextremisten in weiten Teilen der Öffentlichkeit. Diese verstünden es, zivilgesellschaftlichen Protest zu kapern, erklärte Vries gegenüber der „Welt“.

Er bemächtige sich gesellschaftlicher Debatten wie Kapitalismuskritik oder Klimaschutz und versuche, diese zu radikalisieren. „Es wird die politische Fieberkurve hochgetrieben, um die vermeintliche Systemfrage zu stellen.“ Es sei gesellschaftlich gefährlich, so Vries, dass der Linksextremismus „insbesondere in großstädtischen Milieus zum Teil salonfähig ist“. 

Auch NRW-Verfassungsschutzchef Burkhard Freier deutet an, dass eine Defensivtaktik gegenüber einer extremen Linken, die als vermeintlich entschlossenste Kraft gegen die „Gefahr von rechts“, die „Klimakatastrophe“ oder den „Ausbeuterkapitalismus“ kein empfehlenswertes Rezept sein könne. Vielmehr sei es gerade das Fehlen von Widerspruch zu ihren Narrativen, das die Extremisten in ihrem Denken und Handeln bestärke.

Terror aus der „fast geschlossenen Lebenswelt“ heraus

Linksextreme bewegten sich, so Freier, in „sektiererisch anmutenden, abgeschotteten Gemeinschaften“. In ihren Echokammern begegneten sie „keiner Gegenmeinung mehr, sondern ausschließlich Bestätigungen ihres eigenen, radikalen Wertesystems“. Zudem hätten sich gerade in Großstädten linksextreme Parallelgesellschaften herausgebildet, innerhalb derer Linksextremisten in einer „fast geschlossenen Lebenswelt“ agierten, wo alle ihre Bezugspersonen dem Milieu angehörten.

Lediglich in Fällen, in denen der eigene Fanatismus auf die Grenzen der Realität stoße und tatsächliche Nachteile drohten, bestehe die Chance, Linksextremisten zum Ausstieg zu bewegen. Umgekehrt würde das bedeuten: Je weniger Gegenwind in der Öffentlichkeit die Darstellung fände, Deutschland wäre ein kapitalistischer und rassistischer Staat, der wahlweise kurz vor der Machtübernahme durch „Faschisten“, der Massenverarmung durch Sanierung von Altbauten oder der Zerstörung durch die „Klimakrise“ stehe, umso mehr könnten gewaltbereite Linksextremisten meinen, sich in noch rücksichtsloserer Weise als „Retter“ zu inszenieren.

Ein moralisierter, emotionalisierter und von Panikszenarien aller Art gekennzeichneter politischer Diskurs bildet dabei den idealen Nährboden für eine weitere Enthemmung.



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