Bildung scheitert nicht an Corona, sondern am System – Professorin: „Das Abitur ist schreiend ungerecht“

Unterschiedliche Anforderungen, unterschiedliche Leistungen - trotzdem gilt das Abitur deutschlandweit. Dabei ist das Bildungsniveau in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gesunken.
Titelbild
Gelangweilte Schülerinnen im Unterricht.Foto: iStock
Von 26. Juni 2020

„Der ehemalige SPD-Minister Mathias Brodkorb legt mit seiner Streitschrift ‚Der Abiturbetrug‘ den Finger in die richtige Wunde“, heißt es in einem Kommentar der „Kieler Nachrichten“. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, dass sich unser Bildungssystem jemals komplett vereinheitlichen lassen werde.

So sieht das auch Bildungsforscherin und Co-Autorin Katja Koch, die das Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation in Rostock leitet. Denn auch ungeachtet der Corona-Krise klaffen in der deutschen Bildung große Lücken – vor allem, was das Abitur angeht. Gemeinsam mit dem früheren Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern hat sie das Buch „Der Abiturbetrug – Vom Scheitern des deutschen Bildungsföderalismus. Eine Streitschrift“ geschrieben.

Für die Pädagogik-Professorin ist klar, dass der Föderalismus es seit Jahrzehnten nicht schaffe, ein gutes Bildungssystem zu sichern. Und das habe einen einfachen Grund, erklärte sie in einem „Focus“-Interview: „Länderinteressen wiegen schwerer als Vernunftargumente und der Blick auf das Ganze.“

In Sachsen und Bayern würden derzeit die höchsten Leistungsanforderungen an Abiturienten gestellt. Wenn man jedoch davon ausgehe, dass die Qualität des Abiturs in Leistung bestehe, sei das Abitur in vielen anderen Ländern „wohl eher kein solches Signal mehr“, gab Koch zu bedenken.

Auch wenn sich die Corona-Krise nicht nachteilig auf die Abi-Abschlussklassen ausgewirkt habe, da der Unterricht im zweiten Schuljahr aus Wiederholungen und Prüfungsvorbereitungen bestand, so dürften es die folgenden Jahrgänge wesentlich schwerer haben. Ihnen mangle es an Unterrichtsstoff. „Zudem mussten sie unter diesen widrigen Umständen Punkte für ihr Abitur sammeln.“ Denn die Punkte der letzten vier Halbjahre machen etwa zwei Drittel der späteren Abiturnote aus, während die Prüfungen nur ein Drittel der Abi-Note ausmachen, erklärte Koch.

Sinkendes Niveau seit Jahrzehnten

„Wir behaupten, dass das Niveau in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken ist. Zudem ist das Abitur schreiend ungerecht“, fügte die Bildungsforscherin hinzu. Aber dafür könne Corona nichts.

Problematisch seien das geringe Leistungsniveau und die nicht vorhandene Gleichwertigkeit. Bei den Abiturleistungen gebe es „viele Schlupflöcher – so groß wie Scheunentore“. Insoweit hätten Länder enorme Spielräume, die Bedingungen zu manipulieren, unter denen ein Abitur bestanden werde.

Sollten sich nun also die Länder mit dem höchsten Abitur-Niveau, nämlich Bayern und Sachsen, auf das Niveau der anderen Länder absenken lassen? Dann würde zwar die Abiturientenquote ansteigen, aber Bayern und Sachsen würden das „hart erarbeitete symbolische Kapital“ verlieren. „Warum sollte Bayern dem zustimmen?“, fragte Koch.

Wenn anders herum die Länder mit niedriger Quote das Niveau auf das höchste anheben, so gäbe es „plötzlich massenweise enttäuschte Schüler und Eltern“, betonte die Forscherin und fügte hinzu: „Welcher Kultusminister hält das aus?“

Ohne dass der Bund in Bildungsfragen die Federführung übernehme, werde sich das System nicht zum Besseren wenden.

Einheitliche Anforderungen deutschlandweit

Ein „Deutschland-Abitur“ sei die Lösung. Damit würden die Schlupflöcher gestopft. Dieselben Abschlussprüfungen auf einheitlichem Niveau in derselben Zeit. Dafür brauche es aber auch einheitliche Rahmenpläne und einheitliche Stundentafeln. Wenn diese Forderungen erfüllt seien, gäbe es auch keine Probleme mehr, wenn eine Familie mit Schulkindern in ein anderes Bundesland umziehen.

Und auch Freiräume für die Pflege regionaler Kulturbestände, wie Regionalsprache, könnten beim „Deutschland-Abitur“ eröffnet werden. Es sei „eine reine Mär“, dass man das Chaos des Bildungsföderalismus aufrechterhalten müsse, um kulturelle Vielfalt in Deutschland zu sichern, kritisierte Koch. Von der Warte aus betrachtet sei diese Lösung „gerecht, übersichtlich, unbürokratisch, kostengünstig und familienfreundlich“.



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