Corona-Aufarbeitung? – Soziologe: „Die Gesellschaft hat gar kein Interesse mehr daran“
Die NZZ hat die Aufarbeitung der Corona-Jahre in einem Streitgespräch thematisiert. An dem komplexen Interview nahmen der Bundes-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar und der Soziologe Heinz Bude teil. In der Diskussion ging es um Corona-Zahlen und das umstrittene BMI-Papier, an dem Bude mitgewirkt hat. Gleichzeitig bot es Einblicke, dass auch führende Politiker es mit Corona-Verordnungen nicht so ernst nahmen.
Gefragt nach der „schlimmsten Maßnahme“ verwies Kubicki auf die Schulschließungen. Es sei schon vorab klar gewesen, dass es keine Strategie für einen vernünftigen digitalen Unterricht geben würde und viele Kinder auf der Strecke bleiben würden.
Auch das Betretungsverbot der Spielplätze sei für Familien in Etagenwohnungen „eine Katastrophe“ gewesen. „Probieren Sie das mal aus: tagelang in einer Dreizimmerwohnung mit zwei kleinen Kindern, ohne Balkon“, so der FDP-Abgeordnete.
Claudia Roth auf Parkbank angehalten
Ganz so ernst mit den Corona-Maßnahmen nahmen es zumindest Yogeshwar und der FDP-Bundesvize nicht. „Ich habe unsinnigen Maßnahmen immer widersprochen. Ich war bisweilen sogar ein Gesetzesbrecher“, stellt der Wirtschaftsjournalist klar. Und Kubicki fügt hinzu: „Ich kenne niemanden, der sich an alles gehalten hat.“
Dass auch andere Politiker die Corona-Verordnungen auf die leichte Schulter nahmen, zeigt eine weitere Äußerung des FDP-Politikers, der seit 1985 als Rechtsanwalt in eigener Sozietät tätig ist.
Er schilderte: „Die heutige Kulturstaatsministerin Claudia Roth von den Grünen rief mich an, weil Polizisten im Englischen Garten in München sie verwarnen wollten. Sie saß auf einer Parkbank und las ein Buch. Das war in Bayern verboten. Ich habe ihr gesagt: Claudia, gib denen deine Personalien, sag, sie sollen dir einen Bußgeldbescheid schicken – und dann klagen wir das durch bis zur letzten Instanz.“
Das „unsägliche“ BMI-Papier
Kubicki spielte aber auch auf das „unsägliche Papier aus dem Innenministerium“ an. Eigentlich war das brisante Papier mit der Einstufung „Verschlusssache, nur für den Dienstgebrauch“ gedacht, wurde aber im März 2020 publik.
Darin hieß es: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden.“ Dabei wurde angeführt: „Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“
Eine derartige Angstmache, wie sie vom Ministerium empfohlen wurde, dürfe in einer Demokratie nicht geschehen, so Kubicki. Er selbst habe schon früh vorgeschlagen, vor allem auf alte Menschen in Einrichtungen zu schauen. Mit einer FFP2-Maske hätten sie „jedenfalls einen gewissen Schutz gehabt“.
Der FDP-Politiker kritisierte zudem, dass Warnungen von Kinder- und Jugendärzten überhört wurden. Sie hatten bereits 2020 darauf hingewiesen, „dass der durch den Lockdown erzwungene Bewegungsmangel die Kinder fast sofort schädigte, dass Depressionen und andere psychische Erkrankungen zunahmen“.
Wenn kleine Kinder nach einem Jahr Pandemie anfangen, Menschen nur noch mit Maskengesichtern zu malen, müsse man sich schon irgendwann fragen, ob eine Maßnahme angesichts der Kollateralschäden noch gerechtfertigt sei, so der Anwalt weiter – zumal das Risiko für Kinder, an COVID schwer zu erkranken, äußerst gering war.
Internes aus dem BMI: Kein Arzt im Beratergremium
Bude widersprach dem von Kubicki gezeichneten Bild, wonach die Maßnahmen willkürlich „aus Lust und Laune“ erfunden wurden. Der Soziologe war am 14. März von Markus Kerber, dem Staatssekretär des damals von der CSU geführten Bundesinnenministeriums, kontaktiert worden, um mit anderen Personen über die Corona-Lage und mögliche Maßnahmen zu beraten.
In dem Beratungsteam wirkte auch der österreichische Germanistik-Doktorand Otto Kölbl mit, der zentrale Teile des BMI-Papiers formuliert hat. Der bekennende Mao-Fan war auch für die Kommunistische Partei Chinas tätig.
Bude verwies auf den „ziemlichen Handlungsdruck“, unter dem das einberufene Gremium damals stand. Man habe all die von Kubicki aufgeworfenen Probleme sehr sorgfältig analysiert. Dabei stand die Frage im Raum, ob man sich für eine „natürliche Selektion“ oder eine unkontrollierte Virenverbreitung entscheide, ob man es mit einem „langfristigen Feintuning“ oder einem kurzen Lockdown versuche und welche Wirtschaftszweige zu schützen seien.
„Es gab auch keine Medizinerlastigkeit des Gremiums, wie manche behauptet haben. Da war kein Arzt drin, keiner der viel gescholtenen Virologen“, so Bude weiter.
Stattdessen hätten dem Gremium Zahlen über die Versorgung mit Intensivbetten und Beatmungsgeräten in Großstädten vorgelegen. Man habe auch weder gewusst, „dass nur die Alten besonders gefährdet waren, noch, wie wirksam Masken sein würden“, so Bude.
Kubicki wies den Soziologen daraufhin in die Schranken. „Das ist falsch, Herr Bude. Darauf konnte man schon kommen, sehr schnell.“
„Best-Practice-Beispiele“ auch aus China
Wie Bude weiter schildert, habe man in dem Gremium die Pandemieerfahrungen von China, Südkorea und Taiwan während der SARS-Pandemie geprüft. Dabei seien „kulturelle Faktoren“ erst einmal ausgeklammert worden.
Auf die Nachfrage der NZZ, ob damit die Tatsache gemeint sei, dass China eine Diktatur ist, der andere Maßnahmen zur Verfügung stehen als einer Demokratie, antwortete der Soziologe ausweichend und verwies plötzlich auf Taiwan, Südkorea und Singapur.
Auf die Aussage, dass China mit seiner Corona-Strategie „krachend gescheitert“ ist, nachdem die Bevölkerung monatelang eingesperrt und Kranke unter unmenschlichen Bedingungen zwangsinterniert wurden, ging er nicht ein.
Auch Kubicki zeigte sich von Budes Äußerung „irritiert“. Der Soziologe stellte klar: „Ich würde immer noch so vorgehen, wie wir es getan haben!“ Was solle man sonst auch tun? Im Grundgesetz stehe nicht, was im Fall der nächsten Pandemie, einer Hitzewelle, eines Zusammenbruchs des Finanzmarkts, einer plötzlichen Lebensmittelknappheit oder des Fehlens von Standardmedikamenten zu tun sei.
„Wir haben in unserer Gesellschaft keine klaren Vorstellungen, was man in solchen Fällen, die wahrscheinlich sind, tun könnte“, so Bude.
Dafür habe Deutschland eine politische „Maschine“, die gut funktioniert, wandte der Wirtschaftsjournalist Yogeshwar ein. Allerdings könne diese keine Entscheidungen im Kontext von Unsicherheiten fällen. „Plötzlich reagiert unser System dann autoritär und wird taub.“
Corona-Szenario aus 2012 und eine miserable Datenlage
Kubicki verwies Bude auf ein bereits 2012 bestehendes Papier des Bundestages, in dem das Szenario einer Corona-Pandemie durchgespielt wurde. Eine 2017/18 durchgeführte Katastrophenschutzübung sei „leider komplett in die Hose gegangen“. Schon damals sei die Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden ein Desaster gewesen.
„Wir hatten Vorbereitungszeit, aber wir haben sie nicht genutzt“, so Kubicki. Der FDP-Politiker kritisierte zudem Budes Mitwirkung an „einem hoch fragwürdigen No-Covid-Manifest“, wonach ganze Landkreise bei mehr als zehn Fällen pro Tag abgeschottet werden sollten.
Als Yogeshwar das noch immer bestehende „miserable Daten-Cockpit“ kritisiert, sodass bis heute die Frage offen ist, wer „an“ oder „mit“ Corona gestorben sei, und auch Kubicki darauf verweist, dass er seit März 2021 vom Bundesgesundheitsministerium immer wieder zu dieser Thematik mit den Worten „die Aufschlüsselung komme demnächst“ vertröstet wird, äußert Bude: „Das ist eben extrem schwierig. So einfach ist das alles nicht. Man muss definieren, was als Vorerkrankung gilt.“
Auf diese Aussage kontert Kubicki: „Wenn selbst das Opfer eines Motorradunfalls, bei dem nach dem Tod Corona festgestellt wurde, in der Statistik registriert wurde, ist das doch katastrophal.“ Tatsächlich seien weit überdurchschnittlich viele alte, kranke Menschen durch Corona hinweggerafft worden. Das hätte man so auch benennen müssen.
Für eine zusätzliche Verschärfung in der Pflege habe im Januar 2021 der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn gesorgt, indem er die Zahl der Patienten, die eine Pflegekraft betreuen muss, gesenkt hat – aus Sicht der FDP eine Reform zu einem „vollkommen falschen Zeitpunkt“.
„Man kann nicht dauerhaft Grundrechte auf der Grundlage einer miserablen Erkenntnisinfrastruktur einschränken und nach dem Ende der Pandemie dann nichts nacharbeiten“, kritisiert Yogeshwar.
„Selbst wenn ich diese Erkenntnisse, die Sie fordern, damals gehabt hätte, hätte ich in der Pandemie nicht anders entschieden“, so Bude, der daraufhin plötzlich nicht mehr von dem Mustermodell China, sondern von einer Entscheidung zwischen Schweden und Taiwan spricht.
Für ihn steht fest, dass durch die Corona-Maßnahmen und die COVID-Impfung, bei der es vor allem darum ging, „möglichst viele Menschen zu motivieren“, der Tod von einer Million Menschen abgewendet wurde. Davon lässt er sich auch auf Einwände von der das Interview leitenden Journalistin und Kubicki nicht abbringen.
Menschen, die noch immer auf eine Corona-Aufarbeitung hoffen, werden von Bude enttäuscht. Eine Aufarbeitung hält er für „sehr schwierig“. „Die Gesellschaft hat gar kein Interesse mehr daran. Das ist wie mit der Spanischen Grippe, die hinter den beiden Weltkriegen verschwunden ist. Selbst in der Wissenschaft wollen sich alle lieber mit etwas Neuem beschäftigen“, so der Soziologe.
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