Lauterbach bei Lanz: Corona-Regeln im Freien waren „Schwachsinn“

Ausgangssperren, Reisebeschränkungen, Maskenpflicht im Freien und Kontaktverbote. Was teilweise bei dem einen oder anderen schon in Vergessenheit geraten ist, ist seit Donnerstagabend (9.2.) wieder in vielen Köpfen präsent. Anlass gab Markus Lanz mit seiner Talkshow, bei der es um die Aufarbeitung der Corona-Politik ging.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, kommt zur wöchentlichen Sitzung des Bundeskabinetts im Kanzleramt.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, kommt zur wöchentlichen Sitzung des Bundeskabinetts im Kanzleramt.Foto: Michael Kappeler/dpa
Von 11. Februar 2023

Die am 9. Februar ausgestrahlte Talkshow mit Markus Lanz und seinen Gästen hatte Sprengkraft. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte alles andere als einen leichten Stand. Neben dem kritisch hinterfragenden Moderator kamen auch der Gesundheitsexperte Markus Grill, die Ärztin Dr. Agnes Genewein und der Journalist Heribert Prantl zu Wort, die den Minister mit der Corona-Politik und ihren Auswirkungen konfrontierten. Nach der Sendung zog der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Kubicki (FDP), Resümee und legte Lauterbach einmal mehr einen Rücktritt ans Herz.

Gleich zu Beginn der Sendung stellte Lauterbach klar „Die Pandemie ist nicht vorbei“ und sorgte damit für Stirnrunzeln in der Talkrunde. Wir befänden uns im Übergang zur endemischen Phase, so der SPD-Politiker weiter. Nach wie vor würden Menschen sich infizieren und schwer an COVID erkranken. Deutschland sei jedoch gut durch die Krise gekommen, und dass obwohl es ein „Sonderproblem“ gegeben habe: Eine „Querdenkerfront“ habe verhindert, dass die COVID-Impfungen bei älteren Menschen in dem Umfang verteilt werden konnten, wie es notwendig gewesen wäre. Aufgrund der rückgängigen Zahlen könne man jetzt jedoch gut vertreten, dass die Maßnahmen zurückgenommen wurden.

Im Robert Koch-Institut (RKI) sowie dem Bundesgesundheitsministerium gelte hingegen noch immer die Maskenpflicht, bestätigte Lauterbach auf die Frage des Moderators. Man habe „Vorbildfunktion“, die von diesen Institutionen ausgehe, so der Minister weiter. Schließlich hätten die Masken dazu beigetragen, den Krankenstand in der Behörde zu minimieren.

Verfolgungsjagd im Hamburger Jenischpark

Der Journalist Heribert Prantl, ehemaliger Staatsanwalt und Richter, betrachtet viele, wenn auch nicht alle Maßnahmen, die im Rahmen der Corona-Politik zum Tragen kamen, als falsch. Zum Anfang der Pandemie hätte man schnell handeln müssen. Danach sei es aber zu einem „Riegelungsexzess“ mit Reglementierungen innerhalb Deutschlands gekommen. „Es war nicht mein Staat“, so Prantl. Am Anfang habe man die Menschenwürde getreten, weil man schnell handeln musste und vieles nicht wusste – später weil vieles nicht richtig erforscht worden sei.

In diesem Moment spielte die Regie ein Video aus dem Jenischpark in Hamburg aus Ende Februar 2021 ein. Jugendliche, die sich in einer kleinen Gruppe zu viert oder fünf getroffen hatten, werden von Polizisten gejagt und sogar mit einem Polizeifahrzeug verfolgt.

Joggen mit Maske oder Beispiele wie das aus Hamburg gezeigte Video seien „Exzesse“ gewesen, räumt Lauterbach ein. Im Nachhinein betrachte er die Maßnahmen, mit denen man im Freien eine Ansteckung verhindern wollte, als „Schwachsinn“. Gleichzeitig betonte der Minister, dass ohne Maßnahmen, ohne Lockdown in Deutschland eine Million Menschen gestorben wären, wenn man alles so hätte laufen lassen. Nach seinen Angaben seien bislang in Deutschland ungefähr 180.000 Menschen an Corona gestorben. Es wären jedoch weniger gewesen, wenn „Querdenker“ und Wissenschaftler die Maßnahmen nicht infrage gestellt hätten.

Prantl hingegen sieht Lauterbach in der Verantwortung, dass es überhaupt zu einer Kluft zwischen Maßnahmenbefürwortern und -kritikern gekommen ist. Das sei darauf zurückzuführen, dass Andersdenkende als „Verschwörungstheoretiker abgebügelt“ wurden. Der Minister ließ sich jedoch nichts vorwerfen. Im Einklang mit der Wissenschaft habe man Menschen schützen wollen. Sowohl die Politiker als auch die Regierung beratende Wissenschaftler seien nach „bestem Wissen und Gewissen“ vorgegangen. Dass man es jetzt so darstellen wolle, als hätten die ganzen Maßnahmen nichts gebracht, sei „Gift“ – auch im Hinblick auf mögliche zukünftige Pandemien.

Modellierungen befeuern Panikpolitik

Markus Gill, Chefreporter der Investigativressorts von NDR und WDR, erinnerte Lauterbach daran, dass er die Dinge übertrieben hätte. Am 18. April 2021 hatte der Minister beispielsweise auf Twitter einen „letzten strengen Lockdown“ von sechs Wochen gefordert, weil sonst „weit über 10.000 Menschen“ in der Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen sterben würden. Einen Lockdown gab es schließlich nicht. Und statt zehntausend Menschen seien nur 700 gestorben, wie das RKI später mitteilte.

Sie tun so, als ob Sie immer auf Basis bester wissenschaftlicher Erkenntnisse argumentieren, […] Sie haben oft mit Angst argumentiert“, wirft der Journalist dem Minister vor.

Üblicherweise seien Ärzte dazu da, den Menschen ihre Ängste zu nehmen, so Gill weiter. Das gelte auch für Politiker.

Lauterbach rechtfertigte die genannten Zahlen mit Modellierungen von renommierten Wissenschaftlern. Modellierungen, die „kolossal daneben lagen“, warf Gill ein. Das wollte Lauterbach so jedoch nicht stehen lassen. Vielmehr habe sich die Situation wegen einer „stärkeren Saisonalität“ deutlich entspannt, die in den Modellierungen so nicht enthalten gewesen war. Damit sei die Prognose noch lange nicht unseriös.

„Das Leben spielt sich nicht in Modellen ab“, kritisierte Prantl. Lauterbach orientiere sich zu sehr an den Modellierern. Weder seien während der Pandemie die Schüler und Eltern noch Stimmen aus der Gesundheitsvorsorge gehört worden. Und auch Lehrkräfte seien nur unzureichend zu Wort gekommen – kurzum all jene, die „vor Ort Ihre Maßnahmen aushalten, ausbaden und leben mussten.“ Die Expertise sei viel zu eng gewesen, so Prantl.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Markus Lanz, Sendung vom 9. Februar. Foto: Screenshot

Karl Lauterbach im Gespräch mit Markus Lanz, Sendung vom 9. Februar. Foto: Screenshot

Experten als Befehlsempfänger

Dem stimmt auch die Ärztin Dr. Agnes Genewein, Alleinvertretende Vorständin der Stiftung Hannoversche Kinderheilanstalt, zu. Die Demokratie und die Mitbestimmungsrechte seien völlig zu kurz gekommen. Anhand ihrer Einrichtung schilderte sie, wie Ärzte und Pflegekräfte, die Experten im Umgang mit Viruserregern waren, plötzlich als Befehlsempfänger dastanden.

Sie habe sich innerhalb ihrer Einrichtung im Rahmen des Möglichen bewegt, betont die Medizinerin. Als beispielsweise die Kitas geschlossen wurden, wurde kurzerhand eine Betreuung in leer stehenden Räumen des Hauses organisiert, sodass die Mitarbeiter weiterarbeiten und die Kinder versorgt werden konnten.

Die Kinder- und Jugendärztin kritisierte, dass alles zentral dirigiert wurde, sodass der Spielraum, auf die lokale Lage zu reagieren, weitestgehend eingeschränkt war – und immer noch ist. Zum Beispiel wenn es um die Maskenpflicht in den Kliniken geht, die ihrer Meinung nach abgeschafft werden muss.

Aktuell erlebt die Ärztin, wie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit 103 Betten Kinder vermehrt wegen Angststörungen behandelt werden müssen, darunter auch Kinder unter sechs Jahren. Bei ihnen seien die Auswirkungen der Maßnahmen deutlich zu sehen. Eltern, die während der Pandemie stark verängstigt waren, hätten dies an ihre Kinder weitergegeben.

Da in der Vergangenheit Therapiegruppen, in denen ein Kind Corona-positiv getestet wurde, aus der Klinik entlassen werden musste, stehe die Einrichtung nun vor großen finanziellen Problemen. Außerdem habe sich die einrichtungsbezogene Impfpflicht in ihrer Klinik als „schädlich“ herausgestellt, so Dr. Genewein weiter.

Weniger Lauterbach, dafür mehr Süssmuth

Die einrichtungsbezogene Impfpflicht habe in Deutschland noch tiefere Gräben geschaffen, hieß es weiter in der Talkrunde. Prantl berichtete von Leserbriefen, in denen Betroffene klarstellten: „Wir sind nicht gegen die Impfung, wir sind gegen die Impfpflicht.“

Bei einer nächsten Pandemie oder Epidemie würde sich Prantl „weniger Lauterbach wünschen in der Art und Weise, wie Angst gemacht wird“ und mehr Werbung á la Rita Süssmuth, die in den 1980er-Jahren bei der AIDS-Bekämpfung auf Prävention durch Aufklärung und eigenverantwortliches Handeln setzte. Die Menschen müssten auf ganz andere Weise angesprochen werden und bräuchten keinen „Daueralarm“, wie er von dem Minister praktiziert wird. Es bräuchte zudem weniger Verordnungen, sondern eine öffentliche Debatte innerhalb des Parlaments, das bei Maßnahmen unbedingt mit einbezogen und darüber abstimmen müsse. Grundrechte würden Grundrechte heißen, weil sie „ganz grundsätzlich wichtig sind“, so Prantl.

Lauterbach hält dem entgegen, dass man in Anbetracht von Todesfällen und schweren Erkrankungen die Bevölkerung warnen muss. Das sei auch keine Panikmache. Außerdem sei es ein Riesenunterschied, ob sich eine Person selbst vor einer AIDS-Erkrankung schützen könne oder ob man durch eine Infektion auch andere Dritte gefährde. Gleichzeitig stimmte er zu, dass das Parlament bei zukünftigen ähnlichen Situationen mehr einbezogen werden sollte.

Kubicki legt Lauterbach Rücktritt ans Herz

Nach der Sendung zog der Vizepräsident des Deutschen Bundestages und FDP-Vize Wolfgang Kubicki am 10. Februar auf Facebook Resümee: „Es war eine bemerkenswerte und in Teilen ermutigende Sendung von Markus Lanz gestern Abend“, schrieb er. „Erschütternd war zugleich, mit welchen Unwahrheiten Karl Lauterbach versucht, sein Restrenommee noch zu retten.“

Insoweit nahm Kubicki Bezug auf die von Lauterbachs prophezeiten eine Million Todesfälle, die ohne Lockdown eingetreten wären. „Ich habe in diesem Zusammenhang vor ein paar Wochen das Bundesgesundheitsministerium gefragt, ob die ursprünglich von Christian Drosten behauptete Zahl von einer Million geretteter Menschenleben geteilt würde, und wenn ja, auf welcher Berechnungsgrundlage diese Zahl ermittelt wurde“, erklärte der FDP-Politiker.

In der der Epoch Times vorliegenden Antwort aus dem Bundesgesundheitsministerium vom 4. Januar 2023 heißt es, dass die Berechnung dem Ministerium zwar nicht vorliege, es aber die Einschätzung teile, dass durch die beschlossenen Corona-Schutzmaßnahmen – vor allem durch die nicht-pharmazeutischen Maßnahmen sowie die schnelle und effektive Impfung vulnerabler Gruppen – „eine sehr hohe Zahl von Sterbefällen“ im Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Infektion vermieden werden konnten.

Dass Lauterbach jetzt erklärt, dass die „Regeln draußen“ „Schwachsinn“ gewesen seien, ist in Kubickis Augen in vielerlei Hinsicht problematisch: „Hätte man auf ‚die‘ Wissenschaft wirklich gehört und dies nicht nur immer laut behauptet, hätte man zur Kenntnis genommen, dass führende Aerosolforscher bereits vor der Beschlussfassung der Bundesnotbremse in einem offenen Brief im April 2021 von Ausgangsbeschränkungen und entsprechenden Maßnahmen im Außenbereich abgeraten hatten.“ Damals stellten die Forscher dar, dass die Ansteckungswahrscheinlichkeit im Promillebereich lag.

Jetzt so zu tun, als sei das Ignorieren dieser Stimmen eine Petitesse, ist skandalös“, so Kubicki.

„Die deutsche Corona-Politik hat versagt“, insbesondere bei den Kindern und Älteren. Lauterbach selbst sei einer derjenigen gewesen, die daran mitgewirkt haben, „kritische wissenschaftliche Stimmen auszugrenzen, Panik selbst zu schüren und die Grenzen des Verfassungsstaates zu verschieben“, so Kubicki weiter. Die Bedürfnisse von Kindern und Älteren hätten dabei höchstens eine Nebenrolle gespielt.

„Wenn er meint, jetzt mit einer ‚Schwamm-drüber-Mentalität‘ zur Tagesordnung übergehen zu können, dann wäre das für den demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Aufarbeitungsprozess fatal“, betont der FDP-Vize. Eine Aufarbeitung der Corona-Politik sei unerlässlich und müsse rückhaltlos geschehen. „Einen ehrenvollen Rücktritt würde Karl Lauterbach niemand vorwerfen.“



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