Mehr häusliche Gewalt in Deutschland – Saarland Spitzenreiter

Nach einer Recherche der „Welt am Sonntag“ hat es 2022 einen starken Anstieg der Straftaten gegeben, die der Rubrik „häusliche Gewalt“ zugeordnet werden. Am schlimmsten betroffen war das Saarland. Nur in Bremer Haushalten wurde es sicherer.
Viele Mädchen und Jungen haben seit der Pandemie mit Depressionen und Ängsten zu kämpfen.
Das Symbolbild zeigt eine junge Frau beim Blick aus dem Fenster. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) appelliert an Opfer häuslicher Gewalt, die Taten nicht zu verschweigen.Foto: Peter Steffen/dpa
Von 19. Juni 2023

Schon im März 2020, ganz zu Beginn der Corona-Krise, waren Stimmen laut geworden, die vor einer drohenden Zunahme häuslicher Gewalt gewarnt hatten: Ausgangsbeschränkungen böten dafür einen Nährboden. Ihre Lockdown-Befürchtungen sind bekanntlich wahr geworden. Nach einem aktuellen Bericht der „Welt am Sonntag“ („WamS“) hat es 2022 erneut „einen drastischen Anstieg bei Opfern von Straftaten und Verbrechen im privaten Bereich“ gegeben. Das habe eine Anfrage bei den Innenministerien und Landeskriminalämtern der 16 Bundesländer ergeben.

Unter dem Begriff „häusliche Gewalt“ würden Straftaten wie „Mord, Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung“ subsumiert, so die „WamS“. Für Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gehörten auch „Stalking und Psychoterror“ dazu.

Fast 180.000 Opfer, fast zwei Drittel Frauen

In ganz Deutschland seien im Lauf des vergangenen Kalenderjahres 179.179 Opfer häuslicher Gewalt aktenkundig geworden. Das bedeute offiziell einen durchschnittlichen Anstieg von 9,3 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021. Dunkelziffer unbekannt. Nahezu zwei Drittel der Opfer seien Frauen. Der Täterkreis bestehe in der Regel aus Partnern, anderen Familienangehörigen oder Ex-Partnern.

Den prozentual höchsten Anstieg habe die Polizei im Saarland beobachtet: Im kleinsten Flächen-Bundesland habe es 2022 insgesamt 3.178 Opfer gegeben, bei einer Einwohnerzahl von nicht einmal einer vollen Million Menschen. Im Vorjahr habe man 2.653 Fälle registriert. Das entspreche einem Zuwachs von 19,7 Prozent.

Eine beinahe ebenso große Steigerung habe es in Thüringen gegeben (3.812 Opfer auf 2,1 Millionen Einwohner, plus 18,1 Prozent). Platz drei besetzt Baden-Württemberg (14.969 Opfer/11,2 Millionen Einwohner, plus 13,1 Prozent).

Nur in Bremen Trend rückläufig

Nur relativ leichte Veränderungen habe es in Hamburg (5.141 Opfer/1,9 Millionen Einwohner, plus 1,6 Prozent) und Brandenburg (2,54 Millionen Einwohner, plus 3,1 Prozent) gegeben. Allein der Stadtstaat Bremen habe mit 13,6 Prozent weniger registrierten Opfern häuslicher Gewalt einen deutlichen Rückgang gespürt. Unter den rund 680.000 Bremern und Bremerhavenern seien „nur“ 2.614 Tatopfer gezählt worden.

Die mit 37.141 Fällen mit Abstand höchste absolute Zahl wurde 2022 in Nordrhein-Westfalen gemessen. Das Bundesland an Rhein und Ruhr aber beherbergt mit rund 18 Millionen Menschen auch mit Abstand die meisten Einwohner. Laut „Welt am Sonntag“ kam es hier zu einem Anstieg von 8,5 Prozent. „Auffällig ist, dass dort die Zahl der Körperverletzungen bei häuslicher Gewalt im Fünf-Jahres-Vergleich um 26,2 Prozent gestiegen ist“, schreibt die „WamS“.

Die übrigen Bundesländer rangieren bei Steigerungsraten zwischen 7,6 Prozent (Schleswig-Holstein, 5.376 Opfer) und 10,6 Prozent (Sachsen, 9.381 Opfer).

Bundesregierung will aktiver werden

Das Bundeskriminalamt (BKA) wolle die Zahlen zum Thema häusliche Gewalt im Rahmen eines umfassenden „Lagebilds“ für die Bundesrepublik Deutschland am 3. Juli offiziell in Berlin präsentieren. Mit dabei sein sollen nach „WamS“-Informationen auch Bundesinnenministerin Faeser und Familienministerin Lisa Paus (Grüne).

Faeser war nach Angaben der Bundesregierung noch im November 2022 aufgrund einer Auswertung des BKA zur „Partnerschaftsgewalt“ für das Jahr 2021 von einer deutlich geringeren Gesamtzahl von 143.000 Fällen ausgegangen, darunter 80 Prozent Frauen. 79 Prozent der Täter seien Männer, hieß es damals.

Dunkelfeldstudie läuft, Koordinierungsstelle soll kommen

Familienministerin Paus habe nun darauf hingewiesen, dass das „Dunkelfeld“ nicht aktenkundiger Straftaten aus dem Bereich der häuslichen Gewalt „ungleich größer“ sei „als das Hellfeld“. „Häusliche Gewalt geschieht oftmals im verdeckten, im privaten Bereich. Scham- und Schuldgefühle der Betroffenen führen häufig dazu, dass die Taten im Dunkeln bleiben und nur selten polizeilich angezeigt werden“, so Paus. Die Grüne wolle auch eine „Koordinierungsstelle“ einrichten lassen, die „häusliche Gewalt ressortübergreifend bekämpfen“ solle.

Derzeit laufe eine „Dunkelfeldstudie“, die wirklichkeitsnähere Daten zutage fördern solle. Nach Angaben der Bundesregierung arbeiten das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), das Bundesinnenministerium (BMI) und das BKA gemeinsam daran. Mit den Ergebnissen werde im Lauf des Jahres 2025 gerechnet. Noch 2023 sollen die Ergebnisse einer weiteren Untersuchung zu „Gewalterfahrungen von Männern und Frauen mit Behinderungen in Einrichtungen“ vorliegen.

Für Innenministerin Faeser ist es nach eigener Aussage „unerträglich, wenn Betroffene von häuslicher Gewalt aus Scham schweigen“. Gewalt in den eigenen vier Wänden betreffe nicht nur „viele Frauen“, sondern auch „Kinder und Pflegebedürftige“. „Wir müssen sie stärken, die Taten anzuzeigen, damit mehr Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können“, sagte Faeser nach einem Agenturbericht der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Herbert Reul (CDU), der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, sieht die Ursachen nach Informationen der „WamS“ in einer Veränderung des „gesellschaftlichen Klimas“: „Die Zündschnur ist bei vielen Menschen kürzer geworden und der allgemeine Ton rauer“, so Reul.

Auf die schnelle Reaktion kommt es an

Das Bundesministerium für Justiz fördert nach „WamS“-Angaben derzeit eine spezielle „Tarn-App“, mit deren Hilfe vermeintlich bedrohte Menschen nahezu unerkannt einen Hilfenotruf an die Polizei absetzen können: Ein simpler Druck auf das Smartphone-Display soll genügen, um Hilfe zu mobilisieren, ohne dass ein potenzieller Täter etwas davon merkt.

Etwa 1,7 Millionen Euro soll die App-Entwicklung durch den Verein Gewaltfrei in die Zukunft dem Ministerium bislang wert gewesen sein. Die App werde derzeit im Rahmen eines Pilotprojekts in Berlin und Hannover getestet. 2024 sollen die Tests auch in anderen Bundesländern laufen.

Nach einer Studie des Ifo-Instituts (PDF) sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungstat im Bereich häuslicher Gewalt deutlich, wenn es ein Straftäter sehr kurzfristig mit der Polizei zu tun bekommt: Sofortige Festnahmen schafften kurzfristig Abhilfe und schreckten auch langfristig von Wiederholungstaten ab. Bleibe die schnelle Festnahme aus, so werde erfahrungsgemäß jeder Vierte der mutmaßlichen Täter „innerhalb von 96 Stunden erneut gewalttätig“.

Bereits seit 2013 etabliert ist das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (Nummer: 08000-116 016). Nach Angaben der „WamS“ wurde es in den vergangenen zehn Jahren fast 390.000 Mal für Beratungsleistungen genutzt.

Seit 2018 gibt es nach Angaben der Bundesregierung einen „Runden Tisch“ der Länder und Kommunen, der unter dem Motto „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ an der „Weiterentwicklung des Hilfesystems für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder“ arbeitet. Bundesweit existierten (Stand November 2022) „rund 350 Frauenhäuser, 100 Schutzwohnungen und etwa 600 Beratungsstellen“.

Seit dem 1. November 2022 gibt es zudem eine unabhängige Berichterstattungsstelle zu geschlechtsspezifischer Gewalt am hauptsächlich von Steuergeldern getragenen Deutschen Institut für Menschenrechte.

Lockdown-Politik als Faktor

Im März 2020 hatten angesichts der Lockdown-Politik Europas vor allem der für Menschenrechte zuständige Europarat in Straßburg, außerdem Psychologen, Psychotherapeuten, Experten der deutschen Opferschutzorganisation Weißer Ring oder die Berliner Gewaltschutzambulanz der Charité vor einem Anstieg von Gewalt in Privatwohnungen gewarnt, insbesondere zum Nachteil von Frauen und Kindern.

Doch die Bundes- und Landesregierungen blieben trotz gelegentlicher Lockerungen insgesamt für mehr als zwei Jahre bei ihrem harten Lockdown-Kurs mit Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und 2G/3G-Regeln, die nach einer Ansage des saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU) insbesondere ungeimpfte Menschen vom „gesellschaftlichen Leben“ ausschließen sollten (Video auf Twitter).

Caritasverband verweist auf „Lebenssituation der Corona-Jahre“

Nun fragte die „WamS“ auch bei Eva Maria Welskop-Deffaa, der Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, nach. „Offenkundig hat die angespannte Lebenssituation der Corona-Jahre sich in erhöhter familiärer Gewaltbereitschaft niedergeschlagen“, resümierte Welskop-Deffaa. „Die finanziellen und gesundheitlichen Sorgen, die räumliche Enge, die Unsicherheit über die Zukunft haben als eine Art Brandbeschleuniger für Gewalt in Partnerschaft und Familie gewirkt.“ Die seit 2020 entstandenen „Konfliktmuster“ wirkten nun „schmerzlich fort“.

Maria Loheide, bei der Diakonie zuständig für Sozialpolitik, glaubt eher an eine verstärkte Sensibilität der Betroffenen: „Nach den unsicheren Jahren der Pandemie“ sei das „Bewusstsein für häusliche Gewalt insgesamt gestiegen“. Frauen zeigten „jetzt eher Fälle von Gewalt“ an.



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