Mehr Sozialismus wagen: Immer mehr Deutsche wollen mehr Staat – statt Eigenverantwortung

Obwohl die Staatsquote in Deutschland hoch ist, sind immer mehr Menschen in Deutschland der Meinung, die Politik im Land sei zu „marktradikal“. Eine aktuelle Forsa-Umfrage zeigt, dass die Forderung nach noch mehr Staat sogar populärer wird.
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Immer mehr Menschen in Deutschland fordern, dass der Staat mehr reguliert. Eigenverantwortung zu tragen ist derzeit unpopulär.Foto: iStock
Von 30. Oktober 2019

In einem ausführlichen Beitrag, der in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Cicero“ erscheint und aus dem „Bild“ Anfang der Woche vorab zitiert hat, wirft Hessens Ex-Ministerpräsident Roland Koch der CDU-Führung vor, diese würde es nicht wagen, offen und entschlossen für die Freiheit einzutreten – auch im Sinne freier Märkte.

Das Ergebnis einer jüngst im „Spiegel“ veröffentlichte Umfrage von Forsa, das im Auftrag des Berliner „Forum New Economy“ im Zeitraum vom 9.10.-13.10. des Jahres 1009 repräsentativ ausgewählte Personen befragt hat, könnte einen möglichen Grund dafür offenbaren: Mehr private Eigenverantwortung statt mehr Staat ist in Deutschland nicht unbedingt eine populäre Forderung.

Der Forsa-Umfrage zufolge, die damit in der Tendenz die Ergebnisse ähnlicher Umfragen aus jüngster Zeit bestätigt, bedauern vier von fünf Befragten, dass in den vergangenen Jahrzehnten zu viele öffentliche Leistungen in Deutschland privatisiert worden wären. Dass der freie Telekommunikationsmarkt und Anbietervielfalt im Bereich der Stromversorgung zu drastischen Preissenkungen geführt haben und die nunmehrigen teuren Strompreise einzig die Folge staatlicher und politischer Vorgaben sind, scheint vergessen. Die Bahn hingegen, über deren hohe Preise und Unverlässlichkeit vielerorts geklagt wird, ist nach wie vor nicht privatisiert.

Auch der Aufruf zu mehr Privatvorsorge in der Renten- und Krankenversicherung durch die Bundesregierung wird von 74 Prozent negativ bewertet – obwohl es das staatlich organisierte Rentensystem ist, das vor dem Zusammenbruch steht. Dies nicht etwa, weil „Kapitalisten“ dort eine „marktradikale“ Politik erzwingen wollten, sondern weil die demografische Grundlage für dessen Funktionieren erodiert und im Gesundheitsbereich die staatliche Krankenversicherung immer mehr Leistungen abverlangt bekommt, ohne dass die Beiträge die Kosten decken würden.

„Lerne klagen, ohne zu leiden“

Etwa 87 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, die „ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen“ werde „zunehmend zu einem Problem für den Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland“. Dass die Vermögen der Reichsten überdurchschnittlich stark angewachsen sind, wird auch von Politik und NGOs immer wieder beanstandet.

Übersehen wird jedoch, dass gleichzeitig auch der Lebensstandard der Ärmeren höher ist als in früheren Jahren, sowohl in absoluten Zahlen als auch relativ, weil die Marktentwicklung viele Güter des täglichen Lebens – etwa im Bereich der Unterhaltungselektronik – auch bedeutend günstiger gemacht hat.

Obwohl eine Mehrheit der Befragten erklärt, persönlich keine Nachteile von den Entwicklungen rund um Globalisierung und Wegfall früherer Handelsbarrieren gehabt zu haben, fühlen sich 54 Prozent stärker vom Abstieg bedroht als frühere Generationen und fordern, dass der Staat sie vor möglichen Arbeitsplatzverlusten durch Digitalisierung und Globalisierung schützen soll.

Um den weit verbreiteten Wunsch nach mehr Staat zu erfüllen, plädieren 38 Prozent für die Aufnahme neuer Kredite, 42 Prozent wollen „an anderer Stelle“ Ausgaben kürzen und weitere 18 Prozent plädieren für höhere Steuern und Abgaben, um die Investitionen zu bezahlen. Inwieweit sich die geforderten Schutzmaßnahmen auf die Ausgabenpolitik in Bereichen wie dem „Klimaschutz“ oder der Betreuung von Flüchtlingen auswirken soll, wurde nicht abgefragt.

„Marktradikalismus“ bei Staatsquote nahe 45 Prozent?

Das Forum New Economy mit Sitz in Berlin ist, so der „Spiegel“, ein Ökonomen-Netzwerk, das vom eigenen Journalisten Thomas Fricke mitgegründet wurde und Rückhalt bei Personen wie Nobelpreisträger Michael Spence, „Ungleichheitsforscher“ Branko Milanovic oder dem Chefökonomen im Bundesfinanzministerium Jakob von Weizsäcker finde.

Feindbild der Ökonomen, die Skeptiker als ein letztes Aufgebot eines nicht zuletzt an Schulden und Ineffizienz gescheiterten Keynesianismus einschätzen, sind die längst verstorbenen Politikergrößen der 1980er Jahre Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Deren „neoliberale“ Ansätze seien „von da an mehr oder weniger ausgeprägt in allen westlichen Industrienationen zum Paradigma“ erhoben worden – wogegen allerdings etwa die deutsche Staatsquote von derzeit immer noch 44,5 Prozent spricht.

Nachdem die Höhe der Gesamtausgaben des Staates in Prozent des BIP zwischen 1995 und 2005 von 54,7 auf 44,7 Prozent gesunken war, fiel dieser Anteil seither nie unter die 43,9 Prozent des Jahres 2015. Seither ist die Staatsquote in Deutschland wieder im Steigen begriffen.

Experten nennen auch das Fehlen ökonomischer Bildung an Schulen und das generell geringe Interesse der Bundesbürger an vermeintlich „trockenen“ Wirtschafts- und Finanzthemen als einen möglichen Faktor hinter dem Misstrauen gegenüber dem – funktionierenden – Markt und dem Ruf nach dem Staat – obwohl dieser seine Effizienz oft genug nicht unter Beweis stellt.

Was meinen die Parteien?

Auch wenn in der deutschen Bevölkerung eine weit verbreitete und stetig steigende Unzufriedenheit mit der Regierung zu verzeichnen ist, was sich in katastrophalen Wahlergebnissen der Berliner Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD ausdrückt, geht diese nicht mit der Forderung einher, der Politik generell weniger Entscheidungsmacht in die Hände zu geben – und auf diese Weise Ideologen daran zu hindern, Schaden anzurichten.

Die FDP als die Partei, die traditionell noch am ehesten als Fürsprecherin eines schlanken Staates gilt, profitiert auf überregionaler Ebene kaum von der Proteststimmung. Die Linke, die am Sonntag in Thüringen mit 31 Prozent stärkste Kraft wurde, und die Grünen, die bei der EU-Wahl am stärksten zugelegt hatten, stehen sogar für noch deutlich mehr Staat als Union und SPD.

Aber auch die AfD, die neben mehr Meinungsfreiheit und weniger politischen Gesellschaftsexperimenten zumindest auch weniger Staatsdirigismus unter dem Banner des „Klimaschutzes“ fordert und Unternehmen von bürokratischen Schikanen befreien will, ist keine durchgängig wirtschaftsliberale Partei. Wenn Thüringens Fraktionschef Björn Höcke vor einem „Raubtierkapitalismus“ warnt und neue Anstrengungen fordert, das umlagefinanzierte Rentensystem als staatliche Domäne zu erhalten und zu stärken, bringt er ein tiefes Misstrauen gegen den Markt zum Ausdruck – und steht damit nicht allein.



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