Tom Lausen: Neue Studie zu Intensivbetten ist mangelhaft – Mehr Fragen als Klarheit

Haben sich Krankenhäuser Corona-Hilfen erschlichen, indem sie die Zahl der Intensivbetten manipulierten? Eine neue Studie will den Verdacht widerlegen. Datenanalyst Tom Lausen sieht das anders.
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Tom Lausen, Datenanalyst und Autor des Bestsellers „Die Intensiv-Mafia“.Foto: Getty Images/Privat
Von 3. Juli 2023

Der Streit um das DIVI-Gate geht in die nächste Runde. Nachdem aus einem Bericht des Bundesrechnungshofes im Sommer 2021 hervorgegangen war, dass Krankenhäuser die Zahlen der gemeldeten freien Intensivbetten während der Corona-Krise manipuliert und dadurch ungerechtfertigte Gelder kassiert hatten, sorgt nun ein „Diskussionspapier“ des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim für Wirbel.

Die Autoren Simon Reif und Sabrina Schubert kommen in ihrem 39-seitigen Dokument zu dem Fazit: „Es gibt keine Belege dafür, dass Kliniken systematisch die Zahl der belegten Intensivbetten manipuliert haben, um an Hilfszahlungen zu kommen.“ Der damals geäußerte Verdacht lasse sich in den Daten nicht bestätigen. Insoweit titelte das „Handelsblatt“: „Haben Kliniken betrogen, um an Coronahilfen zu kommen? Studie gibt klare Antwort“.

Der Datenanalyst und Co-Autor des Buches „Die Intensiv-Mafia“, Tom Lausen, sieht schwerwiegende Mängel in dem Dokument. Er fordert von den Autoren die Rücknahme des Papiers.

Worum geht es?

Das Register der „Deutschen Interdisziplinären Vereinigung von Intensiv- und Notfallmedizin“ (DIVI) dient zur Echtzeiterfassung von Intensivbetten-Kapazitäten und wurde während der Corona-Krise eingeführt.

Im Rahmen des „Dritten Gesetz[es] zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von Nationaler Tragweite“ vom 18. November 2020 wurde auch das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) geändert. Geregelt wurde, dass Krankenhäuser Intensivbetten für COVID-Patienten vorhalten und planbare Aufnahmen, Operationen oder Eingriffe verschoben werden sollten.

Für den damit einhergehenden Ausfall von Einnahmen konnten die Kliniken unter bestimmten Bedingungen ab dem 18. November 2020 bis 15. Juni 2021 Ausgleichszahlungen aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds beantragen.

Als Kriterien wurden eine 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner – also die Anzahl der mit einem PCR-Test positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Personen – in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt auf über 70 festgelegt, ab April 2021 lag der Schwellenwert bei über 50. Zudem musste der Anteil der freien betreibbaren Intensivbetten innerhalb von sieben Tagen ununterbrochen bei durchschnittlich unter 25 Prozent liegen.  Waren diese Aspekte gegeben, gab es zunächst 560 Euro für jedes leere Krankenhausbett pro Tag.

Datenanalyst enthüllt „DIVI-Gate“

Der Datenanalyst Tom Lausen brachte zum Jahresanfang 2021 einen Stein ins Rollen. Monatelang hatte er nicht nur sämtliche Corona-Zahlen, sondern auch das DIVI-Register im Blick.

Seine Beobachtung zeigte: Über Wochen hinweg meldeten Krankenhäuser weniger freie Intensivbetten. Dadurch wurde die Auslastung künstlich in die Höhe getrieben. Zur Erinnerung: Erst bei einer Auslastung von mindestens 75 Prozent gab es Ausgleichszahlungen.

Hierzu verweist Lausen exemplarisch auf Daten aus Lübeck, die er neben vielen anderen Regionen in seinem Buch „Die Intensiv-Mafia“ analysiert hat.

Auszug aus „Die Intensiv-Mafia“, Seite 138

Auch andere Experten wie der Ökonom Prof. Dr. Matthias Schrappe oder der Big-Data-Spezialist Martin Adam meldeten sich zu Wort. Das führte zum medialen Aufruhr, der als DIVI-Gate in die Schlagzeilen einzog.

Am 17. Mai 2021 wies die DIVI in einer Pressemitteilung die Vorwürfe der Manipulation zurück. Es habe mehrere Gründe für den Rückgang der Intensivbetten gegeben. Dieser sei auf eine Änderung bei der Abfrage der intensivmedizinischen Kapazitäten sowie dem Einsetzen der Pflegepersonaluntergrenzen zurückzuführen.

„Die Daten legen nahe, dass ein Teil der vorher gemeldeten freien Bettenkapazitäten nun als Notfallreservekapazität gemeldet werden“, so DIVI. Die Notfallreserve könne stückweise aktiviert werden, indem andere Behandlungen abgesagt oder verschoben werden.

Bundesrechnungshof sieht „Fehlanreize“

Der Bundesrechnungshof stellte in seinem Bericht vom 9. Juni 2021 fest, dass er „erhebliche Fehlanreize durch die Gestaltung der Voraussetzungen für die Ausgleichszahlungen“ sehe.

Er beanstandete unter anderem, „dass das BMG [Bundesministerium für Gesundheit] bis heute nicht in der Lage ist, die Zahl der tatsächlich aufgestellten Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeiten verlässlich zu beziffern.“ Aufgrund von Interpretationsspielräumen und wegen verschiedener Definitionen könne man die von den Ländern gemeldeten Zahlen weder nachvollziehen noch seien gesetzliche Kontroll- und Rückforderungsmöglichkeiten vorgesehen. „Damit fehlt ein Nachweis für effiziente Mittelverwendung.“

Letztlich hätten die Ausgleichszahlungen nach § 21 KHG vielen Krankenhäusern im vergangenen Jahr „eine massive Überkompensation aus Steuermitteln“ ermöglicht. „Bei sinkender Bettenauslastung [Anm. d. Red.: Krankenhausbetten insgesamt] um knapp acht Prozentpunkte wuchsen die Zahlungen der Krankenkassen für Krankenhausbehandlungen im Jahr 2020 gegenüber 2019 um 1,7 Prozent. Hinzu traten die Ausgleichszahlungen des Bundes, die allein im Jahr 2020 10,2 Milliarden Euro betrugen.“

Der Bundesrechnungshof hatte es nach eigener Aussage für einen vielversprechenden Ansatz gehalten, Beitragsmittel der Versichertengemeinschaft in Höhe von nahezu 700 Millionen Euro einzusetzen, um drohenden Engpässen bei den Intensivbetten zur Bekämpfung der Epidemie entgegenzuwirken.

Mit diesen Mitteln sollten 13.700 zusätzliche Intensivbetten geschaffen werden. „Ein solcher Kapazitätszuwachs ist aus den vorliegenden Statistiken und Datensammlungen indes nicht abzulesen“, so sein Fazit.

Lausen: „Man kann sich auch bewusst blind stellen“

Nach Veröffentlichung des Diskussionspapiers wies der Datenanalyst Tom Lausen die Autoren darauf hin, dass die Bettenzahl vor oder kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes hätte beleuchtet werden müssen, um der Frage nach dem Intensivbettenschwindel überhaupt auf den Grund zu gehen. Darauf stellen Schubert und Reif klar:

„Eine Reduktion der Betten unter den medizinisch arbiträren Schwellwert von 25 Prozent macht dann Sinn, wenn dadurch Zahlungen ausgelöst werden. Diese Zahlungen sind an die Corona Inzidenz im Kreis geknüpft, weswegen wir den Zeitraum vor und nach dem jeweiligen Erreichen der Inzidenzschwelle betrachten, um tatsächliche strategische Meldungen zu identifizieren.“ Insoweit würden lediglich die Regionen, die direkt um den 18. November die Zahlungskriterien erfüllt hätten, in ihre Betrachtungsweise fallen.

Außerdem verweisen die Autoren auf ihre Analyse des Variationskoeffizienten, wonach sich die Variation der Meldungen um den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes „nicht messbar ändert“.

Weiter schreiben sie in ihrer Mail an Lausen: „Der Nachweis von Verschiebungen wäre ein Schritt nach einer potenziellen Manipulation. Wir konzentrieren uns in der Studie auf die gemeldete Bettenkapazität. Eine freie Kapazität unter 25 Prozent ist eine notwendige, aber wie Sie sagen, keine hinreichende Bedingung für eine Zahlung. Wie weitere Nachweise, die für den Erhalt von Zahlungen notwendig sind, erbracht wurden, ist auch eine interessante Forschungsfrage, wird allerdings aktuell nicht von uns bearbeitet.“

Für den Datenexperten steht eines fest: Mit der falschen Fragestellung sind auch die daraus gezogenen Schlüsse „wissenschaftlich falsch“.

„Man kann sich auch bewusst blind stellen“, interpretiert Lausen die Antwort.

Finanzspritze dank richtiger Taktik?

Es gebe gute Gründe, warum die Krankenhäuser taktisch gehandelt und ihre Bettenzahl manipuliert hätten, so Lausen. Denn hohe Inzidenzzahlen seien für den Winter absehbar gewesen, der konkrete Zeitpunkt, wann diese zum Tragen kommt, jedoch nicht.

„Weil die Anpassung der Bettenzahlen einen gewissen organisatorischen Vorlauf benötigt, ist eine operative Anpassung eher schwer“, argumentiert er gegenüber den Autoren des umstrittenen Papiers. Eine Verlegung der Patienten hingegen sei folgerichtig.

Lausen wirft die Frage auf, ob ganz bewusst eine Analyse des operativen Verhaltens der Krankenhäuser gemacht wurde, „um damit in wissenschaftlich unzulässiger Weise Aussagen über das strategische Verhalten der Krankenhäuser abzuleiten“. Schließlich sei zu erwarten gewesen, dass man so keine Belege für ein strategisches Verhalten findet.

Falsche Frage, falsche Schlüsse

„Wenn man aber wissen will, ob die Krankenhäuser durch eine geschickte Anpassung ihrer Bettenzahlen dafür gesorgt haben, dass sie in den Genuss von Subventionen kommen, muss man eine andere wissenschaftliche Fragestellung wählen, die genau das feststellen kann“, gibt Lausen den Autoren zu bedenken.

Hierzu müsse man den Zeitraum weiter fassen und schon die Tage mit betrachten, an denen die Kliniken von der beabsichtigten Finanzspritze erfahren hatten. Insoweit findet der Datenanalyst auch das Fazit der Autoren interessant, da dies weitreichende Auswirkungen für die Zukunft hat. In dem Papier heißt es: „Unsere wichtigste Erkenntnis in diesem Papier ist, dass, obwohl das Notfinanzierungssystem Raum für lukratives strategisches Vorgehen lässt, ein solches Verhalten nicht in einem nachweisbaren Umfang auftrat. Diese Erkenntnis hat Auswirkungen auf künftige Nothilferegelungen.“

Wie die Co-Autorin Sabrina Schubert gegenüber dem „Handelsblatt“ erklärte, zeige die Studie, dass in Notsituationen wie in der Pandemie „unbürokratische Maßnahmen oft eine gute Wahl sind“. Natürlich blieben dann Anreize, die Hilfen auszunutzen. „Aber zumindest die Kliniken haben davon offenbar keinen Gebrauch gemacht, was ein gutes Zeichen für künftige Hilfen in anderen Bereichen ist.“

Lausen hingegen sieht in der Forschung des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und der Berichterstattung des Handelsblattes eine „Reinwäsche der ‚Intensiv-Mafia‘“. Davon ließ sich Lausen auch nicht abbringen, als Epoch Times ihn darauf hinwies, dass in dem Diskussionspapier ausdrücklich angeführt wurde: „Für den Inhalt, der nicht notwendigerweise die Meinung des ZEW widerspiegeln, sind allein die Autoren verantwortlich.“

„Die Forscher ziehen ganz offensichtlich politisch motivierte Schlussfolgerungen. Mit einer falschen Grundannahme ist dieses ersichtlich politische Fazit unzulässig. Diese Studie ist daher zurückzuziehen, zu überarbeiten und auch das Handelsblatt sollte sich zurück zu den üblichen journalistischen Standards bewegen“, so Lausen.

ISBN: 978-3967890266
18,00 EUR
Paperback, 232 Seiten


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