„Digitale Bildung“: Der abschüssige Weg zur Konditionierungsanstalt
Was versteht man unter „Digitaler Bildung“? Damit ist nicht gemeint, dass Lehrer nach eigenem Ermessen digitale Medien und Software als nützliche Hilfsmittel im Unterricht einsetzen, dass Schüler z.B. Word, Power Point oder Excel lernen, Auswertungen von Versuchen mit Programmen vornehmen, statistische Berechnungen durchführen oder lernen, Filme digital zu drehen und zu schneiden. Das gehört heute zu Grundfertigkeiten, die man ab der Oberstufe lernen sollte. Und dazu genügen stationäre PCs.
Es geht vielmehr um eine schleichende Neuausrichtung des Erziehungswesens, bereits ab den KiTas. Es geht um die Übernahme der Erziehung durch digitale Medien. Ihr Rationalisierungs- und Überwachungspotential macht um die Schule keinen Bogen. So wie bei der Industrie 4.0 Roboter die Produktion selbständig steuern, sollen Computer und Algorithmen das Erziehungsgeschehen autonom steuern. Welche Entwicklung damit eingeleitet werden soll, verriet Professor Fritz Breithaupt 2016 in der ZEIT:
2036 werden Eltern schon für ihre fünf Jahre alten Kinder einen virtuellen Lehrer abonnieren. Die Stimme des Computers wird uns durchs Leben begleiten. Vom Kindergarten über Schule und Universität bis zur beruflichen Weiterbildung. Der Computer erkennt, was ein Schüler schon kann, wo er Nachholbedarf hat, wie er zum Lernen gekitzelt wird. Wir werden uns als lernende Menschen neu erfinden. Dabei wird der zu bewältigende Stoff vollkommen auf den Einzelnen zugeschnitten sein“
Der Think-Tank der Bertelsmann-Stiftung pusht die „Digitale Bildung“. Die Bertelsmann-Chefs Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt berichten begeistert: Die Software „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. ‚Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler‘ sagt Ferreira stolz.
Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt. Komplexe Algorithmen schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt. (…) Schon heute berechnet Knewton zuverlässig die Wahrscheinlichkeit richtiger und falscher Antworten sowie die Note, die ein Schüler am Ende eines Kurses erreichen wird. Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird“.
Übrigens: Bertelsmann gehört zu den drei größten Datenhändlern in Deutschland. Halten wir uns vor Augen, was sich durch die Digitalisierung der Schulen ändern soll:
- Die Schüler sitzen vereinzelt am TabletPC, werden überwacht und gesteuert von Algorithmen. Ein sprechender Computer gibt Aufgaben und Übungen vor.
- Digitaler Unterricht bedeutet einen Schritt in Richtung „Schule ohne Lehrer“. Lehrer werden durch autonome Digitaltechnik ersetzt und zu Lernbegleitern degradiert. Die Lehrer, die jetzt nach den digitalen Medien rufen, sägen an ihrem eigenen Arbeitsplatz.
- Kreativität und Querdenken entfällt. Die Software-Optionen, ausgearbeitet bei Google & Co, geben einprogrammierte Kompetenzen vor. Man lehrt nicht mehr Haltung, sondern verwertbares Verhalten, das ist der Kern der Kompetenzorientierung.
Prof. Dirk Ifenthaler (Universität Mannheim) schreibt: „Mithilfe von Learning Analytics können datenbasierte Auskünfte über das Lernverhalten, Lernaktivitäten und Einstellungen in Echtzeit während des Lernprozesses erfasst und im weiteren Verlauf berücksichtigt werden. Somit werden individuelle dynamische Curricula und Echtzeit-Feedback möglich. Durch die umfassende Analyse des Lernkontexts können die Bedarfe der Lernenden frühzeitig erkannt und individuell auf sie reagiert werden. In die Analyse werden im Idealfall auf Ebene der Lernenden folgende Daten mit einbezogen:
– Merkmale der Lernenden: Interesse, Vorwissen, akademische Leistungen, Ergebnisse standardisierter Tests, Kompetenzniveau, soziodemografische Daten.
– Soziales Umfeld: Persönliches Netzwerk, Interaktionen, Präferenzen hinsichtlich sozialer Medien.
– Externe Daten: Aktuelle Geschehnisse, Ortsangaben, Emotionen, Motivation.“
Der „Idealfall“ ist der permanent durchleuchtete, seiner Privatheit beraubte Schüler, BigData als Grundprinzip von Erziehung: Big Brother is teaching you! Scheinbar lernen die Schüler individuell mit Hilfe digitaler Medien, aber in Wirklichkeit ist es eine Entmündigung.
Professor Ralf Lankau (FH Offenburg) nennt dies „im Kern totalitäre Systeme zur psychischen und psychologischen Manipulation und lebenslangen Steuerung von Menschen“. Beschrieben wird das systematische Heranziehen von Sozial-Autisten, die auf eine Computerstimme hören und tun, was die Maschine sagt.
Der Pädagoge Dr. Matthias Burchardt (Uni Köln) kommentiert: „Der gläserne Schüler wird damit einer unkontrollierten Kontrolle von Maschinen und Algorithmen ausgeliefert. Politisches Engagement gegen diese Technik sollte allein aus der Fürsorgepflicht von Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen erwachsen“.
Konditionierung statt Bildung
Derzeit findet ein Bruch mit dem humanistischen Bildungsauftrag statt. Es geht um Konditionierung in bester behavioristischer Tradition. Der Behaviorismus, eine Richtung der Verhaltensforschung, vertritt, dass jeder Mensch durch positive Reize, also Belohnungen, zum gewünschten Verhalten für anwendungsorientierte Fähigkeiten dressiert werden kann. Von dieser Ideologie ist die moderne kompetenzorientierte Pädagogik beeinflusst. Erziehungsziel ist nicht mehr der im humboldtschen Sinne erzogene gebildete Homo politicus, sondern der widerspruchlos funktionierende Homo oeconomicus.
Schule hat dagegen einen anderen Auftrag. Bildung ist Haltung, die Fähigkeit, Wissen einzuordnen in ein Wertesystem. Wissen allein, sogenannte PC-vermittelte Skills, ohne Ethik, erzeugt Fachidioten, skrupellose Banker, die auf den Hunger wetten, gewissenlose Ingenieure, die Waffensysteme optimieren, Soziologen und Psychologen, die Konditionierungs- und Manipulationssysteme entwerfen, Journalisten, die für die RTL-2 und Bildzeitungs-Volksverdummung schreiben, oder angepasste Arbeitssklaven. Solche Qualifikationen dürfen nicht Erziehungsziel sein.
Schule ist mehr als Kompetenzorientierung, sie muss Haltung vermitteln, statt angepasstes Verhalten. Diese behavioristische Konditionierung ist geplant, und sie wird auch an deutschen Universitäten perfektioniert, z.B. an der Universität Mannheim, wie das Zitat von Prof. Ifenthaler zeigt. So zielen auch die PISA-Tests auf rein anwendungsorientierte Kompetenzen, also auf die Erziehung von Fachidioten, alle übrigen Bereiche der Kultur werden ausgeklammert.
Bereits 1961 hat die OECD, die die PISA-Normierungen durchsetzte, in einem Grundsatzpapier formuliert:
Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun… versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar – auf lange Dauer sogar überlegen – ist“.
Auf diesem Grundgedanken des Waren- und Verwertungscharakters von Mensch und Bildung fußt die „Digitale Bildung“, wie Professor Jochen Krautz in seinem Buch „Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie“ nachweist. Der Begriff „Digitale Bildung“ ist verräterisch. Er ist geprägt von dem Glauben an die totale Messbarkeit der Welt, dem Glauben (und der Hoffnung der Herrschenden) an die Steuerbarkeit aller Lebewesen, auch kognitiver und sozialer Prozesse. Descartes „Ich denke, also bin ich „mutiert zu: „Meine Daten definieren, wer ich bin“. Das Daten-Ich wird zum Avatar, zum lebenslangen Über-Ich.
Der renommierte Schweizer Think Tank Gottlieb-Duttweiler Institut (GDI) sieht die Entwicklung so:
Algorithmen nehmen uns immer öfter das Suchen, Denken und Entscheiden ab. Sie analysieren die Datenspuren, die wir erzeugen, entschlüsseln Verhaltensmuster, messen Stimmungen und leiten daraus ab, was gut für uns ist und was nicht. Algorithmen werden eine Art digitaler Schutzengel, der uns durch den Alltag leitet und aufpasst, dass wir nicht vom guten Weg abkommen.“
Weder Lernprozesse noch Bildung lassen sich digitalisieren, allenfalls Lerninhalte. Bildung hat eine soziale und geistige Komponente.
Sie findet ihren Niederschlag in der Entwicklung des Gehirns, des Denkens und Sozialverhaltens, und dort gibt es nichts Digitales. Das, was in den digitalen Bildungsvorstellungen als individualisierter Unterricht angepriesen wird, ist Frontalunterricht, vom Menschen befreit: das soziale Gegenüber ist ein von Algorithmen gesteuerter sprechender Bildschirm.
Der sozialisierende, gemeinschaftsbildende Klassenverband entfällt, die pädagogische Atmosphäre – erzeugt durch den Lehrer – weicht Vereinzelung, technischer Kälte, Berechenbarkeit und Konditionierung. Man lehrt nicht mehr Haltung, sondern verwertbares Verhalten und Wissen, das ist der Kern der Kompetenzorientierung.
Diese Abwendung vom Humboldtschen Bildungsideal, die Dehumanisierung des Bildungswesens muss sich zwangsläufig schädlich auf den Unterricht und die SchülerInnen auswirken.
Geringere Lernerfolge durch Computereinsatz
Konnte inzwischen mit Vergleichsstudien belegt werden, dass digitale Medien zu besseren Lernerfolgen führen als die bisherige „analoge“ Erziehung?
Nein, im Gegenteil. Dazu verweise ich auf die Beiträge auf der Anhörung im hessischen Landtag am 14. Oktober 2016 zum Thema „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildungin Hessen“.
Die dort vortragenden Experten Burchardt, Lankau und Spitzer weisen nach, dass alle bisherigen Untersuchungen ergaben, dass der Einsatz der digitalen Medien nicht zu besserem Lernen führt. Dazu vier Beispiele:
- Im OECD-Bericht „Students, Computers and Learning: Making the Connection“ (2015), der den Nutzen von Digitaltechnik belegen sollte, schreibt der Chef des OECD-PISA-Programms Andreas Schleicher im Vorwort: „Schüler mit moderater Computernutzung in der Schule tendieren zu besseren Lernergebnissen als Schüler, die Computer selten verwenden. Aber Schüler, die Computer sehr häufig in der Schule verwenden, haben sehr viel schlechtere Lernergebnisse, auch nach der Berücksichtigung von sozialem Hintergrund und der Demographie. Die Ergebnisse zeigen auch keine nennenswerten Verbesserungen in der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft in den Ländern, die stark in IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie) für Bildung investiert hatten. Und vielleicht die enttäuschendste Feststellung des Berichts ist, dass die Technologie wenig hilfreich beim Ausgleich der Fähigkeiten zwischen fortgeschrittenen und zurückgebliebenen Schüler ist.“
Andreas Schleicher wird in einer australischen Zeitung mit den Worten zitiert:
Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt“
Was stattdessen hilft, steht ebenfalls in vielen Studien und Artikeln: qualifizierte Lehrkräfte, gut strukturierter Unterricht und laut John Vallance, Direktor einer der teuersten Privatschulen Australiens: traditionelle Unterrichtsmethoden. Die Medienpädagogin Prof. Paula Bleckmann kommt in ihrer Auswertung der Studienlage unter Einbeziehung des OECD-Berichtes zu dem Schluss:
„Nachgewiesen ist ein erhöhtes Risiko für Verzögerungen in der Sprach- und Bewegungsentwicklung, für Übergewicht, für Schlafstörungen, für Empathieverlust, und für Schulversagen.“
- Eine über drei Jahre gelaufene Hamburger Studie mit über 1.300 Schülern zeigt für den dortigen BYOD-Ansatz (Bring your Own Device), dass Erwartungen nicht erfüllt werden. Der Leiter des Projekts, Prof. Dr. Rudolf Kammerl stellt in der Auswertung über den Einsatz von privaten Smartphones und Tablets fest, dass das BYOD-Projekt „bei den Schülerinnen und Schülern weder zu einer messbar höheren Leistungsmotivation, noch zu einer stärkeren Identifikation mit der Schule [führe]“ (S. 43). Es werde weder besser mit Quellen umgegangen, „noch [sei] eine höhere Informationskompetenz“ (S. 92) erreicht.
- Das Projekt „Lernen in Notebook-Klassen. 1000mal1000: Notebooks im Schulranzen“ muss im Endbericht des Projekts konstatieren: „Bedingt durch das hohe Ablenkungspotenzial, das die Notebooks im Unterricht für die Schüler haben, zeigen die Ergebnisse, dass die Schüler im Notebook-Unterricht tendenziell unaufmerksamer sind … Im Bereich der fachlichen Leistungen wurden im Mathematik-Test keine Unterschiede zwischen Notebook- und Nicht-Notebook-Schülern festgestellt … Hinsichtlich der Informations- und Methodenkompetenz deuten die Ergebnisse insgesamt darauf hin, dass keine oder nur geringe Unterschiede zwischen Notebook- und Nicht-Notebook-Schülern bestehe“.
- In Australien wurden im Jahr 2012 nach einem Absacken im PISA-Ranking ca. 2,4 Milliarden australische Dollar in die Laptop-Ausstattung von Schulen investiert. Seit 2016 werden sie wieder eingesammelt. Die Schüler haben alles damit gemacht, nur nicht gelernt. Ähnliches geschieht in Südkorea, Thailand, USA und der Türkei. Einige Länder, die Deutschland in der Digitalisierung voraus sind, korrigieren also bereits den Digitalisierungshype.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Vortrag: „Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer?“, den der Autor am 21.6.2017 beim Kreisverband Böblingen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gehalten hat. Dort finden sich auch die hier weggelassenen Quellennachweise.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung der Verfasserin dar. Er muss nicht zwangsläufig die Meinung des Verlags oder die Meinung anderer Autoren dieser Seiten wiedergeben.
Er erschien zuerst auf der Webseite norberthaering.de .
Zum Autor: Peter Hensinger ist Germanist und Pädagoge. Er koordiniert bei der Diagnose-Funk e.V. den Bereich Wissenschaft. Weitere Artikel von Peter Hensinger zur Digitalisierung stehen auf www.diagnose-funk.de zum Download.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion