Blaue Beine wegen Long COVID? Spekulation oder evidenzbasierte Diagnostik 

Eine neue Studie aus Großbritannien sieht Long COVID als ursächlich für eine Blaufärbung der Beine. Zusammenhänge mit einer Impfung bleiben offen.
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Post Vac oder Long COVID? Wenn Beine blau anlaufen, kann das verschiedene Ursachen haben (Symbolbild).Foto: iStock
Von 26. August 2023

Die Diagnose Post COVID umfasst länger anhaltende oder dauerhafte Symptome, die nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 auftreten. Wissenschaftler der Universität Leeds berichten im Fachmagazin „The Lancet“ von einem Patienten, der unter Durchblutungsstörungen leidet. Die Autoren erklären, sie hätten die Symptome einer Long-COVID-Erkrankung identifiziert, die bisher nicht beschrieben worden waren. Allerdings wurde über vergleichbare Symptomen auch im Zusammenhang mit COVID–Impfungen berichtet. Das eröffnet die Frage: Wo ist der Unterschied zwischen Long COVID und Post Vac?

Aus der veröffentlichten Fallstudie geht hervor, dass bei einem 33–jährigen Patienten eine rasche bläuliche Verfärbung der Beine festgestellt wurde, wenn er für etwa zehn Minuten aufrecht stand. Nach seinen Angaben fühlten sich seine Beine schwer an und er verspürte ein Prickeln und Jucken.

Fotografien der Beine des Patienten 0 Minuten (A), 2 Minuten (B) und 10 Minuten (C) nach dem Aufstehen. Foto: Universität Leeds zur Studie „Venous insufficiency and acrocyanosis in long COVID: dysautonomia“

 

Wie es in dem Bericht weiter heißt, hatte der Patient ein Jahr vor dem Einsetzen der Symptome eine gesicherte COVID-Infektion.

Durchblutungsstörung führt zur bläulichen Verfärbung der Beine 

Eine bläuliche Verfärbung der Extremitäten ist in der Fachwelt als Akrozyanose bekannt und betrifft meistens die Hände oder die Füße. In seltenen Fällen können die Beine betroffen sein, was auch als „Blue Legs Syndrome“ bezeichnet wird. Dabei ziehen sich Blutgefäße zusammen, wodurch es zu auffälligen Farbänderung der Haut kommt.

Die Ursachen sind bisher nicht vollständig geklärt, allerdings können sowohl genetische Veranlagung als auch sekundäre Faktoren, wie zum Beispiel eine Reihe verschiedener Erkrankungen, eine Rolle spielen. Dazu zählen auch virale Infektionen, die als mögliche Auslöser der Erkrankung beschrieben worden sind.

Eine durch Stehen ausgelöste Akrozyanose ist in der wissenschaftlichen Fachliteratur gut beschrieben. Oft steht sie im Zusammenhang mit einem sogenannten posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS), einer Durchblutungsstörung, bei der es zu einem Anstieg der Herzfrequenz beim aufrechten Stehen kommt. Tatsächlich wurde bei dem Patienten bereits ein POTS durch einen Kardiologen diagnostiziert, was durch die Autoren der Studie bestätigt werden konnte.

Neues Long-COVID-Symptom klassifiziert

Aufgrund der Tatsache, dass der Patient zwölf Monate vor dem Auftreten der Akrozyanose eine bestätigte und mild verlaufene COVID-Infektion hatte, schließen die Forscher auf einen ursächlichen Zusammenhang. Sie gehen von einem SARS-CoV-2-induzierten POTS als Ursache für die Verfärbungen der Beine aus, die sie deshalb als neues Long-COVID-Symptom klassifizieren.

Diese Einordnung wirft allerdings Fragen auf. POTS gehört zu den sogenannten Dysautonomien – einer Gruppe von Krankheiten, die auf Störungen in der Funktion des vegetativen Nervensystems zurückzuführen sind. Das vegetative Nervensystem ist für die Steuerung aller unwillkürlichen Prozesse des Körpers verantwortlich. Störungen können daher fundamentale Funktionen wie Atmung, Verdauung oder auch den Herzschlag beeinträchtigen. Bei POTS treten neben der charakteristischen Erhöhung der Herzfrequenz während des Stehens auch Übelkeit und Kopfschmerzen auf.

POTS kann unter anderem eine Folge von Fehlernährung, Rauchen, langer Krankheit, Gewebeschädigungen, Krebserkrankungen oder zum Beispiel auch psychiatrischen Erkrankungen sein. Auch rheumatische Erkrankungen zählen zu den möglichen Auslösern. Obwohl die medizinische Vorgeschichte des in der Studie vorgestellten Patienten durchaus Hinweise auf rheumatische Erkrankungen enthält, zogen die Autoren dies nicht als Ursache in Erwägung.

Warum den Autoren der Studie eine zwölf Monate zurückliegende milde COVID–Infektion als einzige kausale Erklärung genügt und sie andere mögliche Ursachen verschweigen, bleibt unklar.

Auch Post Vac als Ursache möglich

Inzwischen wurden auch COVID–Impfungen als Auslöser eines POTS beschrieben. In der „Lancet“-Studie fehlen jedoch jegliche Hinweise auf den Impfstatus des Patienten.

Die Nachfrage des Verfassers, ob und wann der Mann eine oder mehrere Impfungen gegen COVID–19 erhalten hat, blieb bislang unbeantwortet.

Ob eine zeitliche Korrelation zwischen dem Auftreten der Symptome und einer Impfung gegen COVID–19 vorliegt, lässt sich daher nicht beantworten. Dass die Autoren die Impfung als möglichen kausalen Faktor für das  POTS ignorieren, ist vor dem Hintergrund eines beschriebenen Zusammenhangs erstaunlich. Es drängt sich die Frage auf, warum die Gutachter bei „The Lancet“ im Vorfeld der Veröffentlichung nicht auf einer Abklärung des Impfstatus des Patienten bestanden haben.

Symptome, die Long COVID zugeordnet werden, stehen gegenwärtig im Fokus der Öffentlichkeit. Berichte über Symptome des vielschichtigen Krankheitsbildes erregen erhebliche Aufmerksamkeit, wie auch an der weltweiten Berichterstattung über die „Lancet“–Studie zu sehen ist.

In Deutschland hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) kürzlich sogar eine Long-COVID-Initiative ins Leben gerufen, um die Bevölkerung über die Gefahren der Erkrankung zu informieren.

Dabei erschweren jedoch Ähnlichkeiten in der Symptomatik der Krankheitsbilder Long COVID und Post Vac in vielen Fällen eine klare Abgrenzung. Auch das BMG erklärt hierzu: „Es lässt sich noch nicht sicher sagen, wie viele Menschen von Long COVID betroffen sind. Das liegt zum einen daran, dass die Beschwerden bei Long COVID sehr vielschichtig sind. Zum anderen muss man beachten, dass mögliche körperliche und psychische Beschwerden nach einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 auch andere Ursachen haben können.“ (Wissenswertes für Erkrankte und Interessierte | BMG-Initiative Long COVID)

Fazit

Bevor eine Einordnung in das Krankheitsbild Long COVID erfolgt, dürfen andere Ursachen für die vielschichtigen Symptome nicht ausgeschlossen werden.

Diesem Grundsatz werden die Herausgeber von „The Lancet“ jedoch nicht gerecht, wenn sie eine Studie veröffentlichen, deren Autoren sich auf eine einzige Ursache für die beschriebenen Symptome festlegen, ohne dafür medizinische und sachlich nachvollziehbare Gründe nachzuweisen.

Statt mögliche alternative Erklärungen zu erwähnen, warnen die Autoren Patienten und Ärzte davor, den von ihnen postulierten Zusammenhang der beschriebenen Symptome mit einer Long-COVID-Erkrankung zu ignorieren.

Nach dieser Logik könnten alle Symptome, die in zeitlich variablem Abstand zu einer COVID–Infektion auftreten, unabhängig von einem nachgewiesenen kausalen Zusammenhang, zum Krankheitsbild Long COVID gezählt werden. Das ist nicht nur unwissenschaftlich, darin liegt auch eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit der Patienten. Denn der Verzicht auf eine evidenzbasierte Diagnostik wird die Auswahl einer adäquaten Therapie erschweren.

Dr. Kay Klapproth ist Biologe mit Schwerpunkt Immunologie. Er hat viele Jahre in Forschung und Lehre gearbeitet, zuletzt als Akademischer Rat der Universität Heidelberg. Wegen der Einführung der bereichsbezogenen Impfpflicht und der Durchsetzung diskriminierender Maßnahmen hat er die Universität inzwischen verlassen.



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