Körpererkundungsräume in Kitas – ein fehlgeleiteter Versuch der Förderung von Kindern
Im Juli 2023 stoppte das Landesjugendamt nach hitzigen Debatten und Beschwerden durch betroffene Eltern das Konzept des Körpererkundungsraums in einer Kita in Hannover. Dieser Beitrag will jenseits emotionalisierter Diskussionen die Vorgänge aus psychologischer beziehungsweise psychoanalytischer Sicht analysieren.
Um das Konzept der sogenannten Körpererkundungsräume besser einordnen zu können, folgen hier einige Informationen zu dem, was man in der Psychologie als psychosexuelle Entwicklung von Kindern bezeichnet.
Angenehm – Unangenehm
Der kindliche Körper ist von Geburt an eine Quelle von Lust und Unlust – hier zu verstehen als angenehme und unangenehme Empfindungen: Babys schreien vor Hunger, wenn sie müde sind oder frieren oder wenn das Bäuchlein wehtut. Aber sie quietschen und krähen auch vor Freude, wenn die Eltern mit ihnen Bewegungsspiele machen, sie knuddeln oder kitzeln. Indem Eltern die Kinder bei Unlust beruhigen, trösten und sie dabei unterstützen, positive Körperempfindungen zu erfahren, helfen sie ihnen, sich zunehmend selbst in ihren Emotionen regulieren zu lernen.
Diese Entfaltung setzt sich auch im Kindergartenalter fort. Neben der motorischen Entwicklung sowie der kognitiven, emotionalen und sozialen, rückt die psychosexuelle Entwicklung in den Vordergrund.
Zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr kommt es bei den meisten Kindern zu einem verstärkten Interesse an den eigenen sowie an den Geschlechtsorganen anderer Kinder.
Der eigene Körper wird auch hinsichtlich dieser Zonen gerne erforscht, und Kinder ziehen sich eine Phase lang allein oder auch zu zweit zurück, um sich gegenseitig bei „Doktorspielen“ zu entdecken.
Dieses spontan auftretende Erleben und Verhalten ist natürlich und förderlich. Es trägt aus psychologischer Sicht zur Entwicklung eines positiven Körperselbstbildes und im Jugendalter auch zur Entwicklung einer gesunden Sexualität bei.
Das benannte Konzept der Körpererkundungsräume scheint diese Prozesse unterstützen zu wollen, um vermutlich eine gesunde psychosexuelle Entwicklung der Kinder zu fördern. Man möchte den Kindern einen Rahmen geben, der ihnen die Erkundung ermöglicht, sie gleichzeitig aber auch schützt. Das Konzept wirft aber einige Fragen auf und erzeugt Probleme, die aus psychologischer Sicht den Nutzen dieser Konzeption überwiegen.
Gesundes Spiel – Überreizung – Traumatisierung?
Die kindliche psychosexuelle Entwicklung ist ein empfindlicher und störbarer Prozess, der hochgradig individualisiert verläuft. Kein Kind entwickelt sich wie ein zweites – trotz aller Gemeinsamkeiten.
Die psychosexuelle Entwicklung verlangt nach einer individuellen und sensiblen Begleitung, aber auch Begrenzung durch erwachsene Bezugspersonen. Einerseits ist es durchaus wichtig, Kinder nicht für ihr Interesse an „Doktorspielen“ zu beschämen oder gar zu bestrafen. Auch ist das Erkunden des eigenen Körpers sowie derer von anderen Kindern etwas Natürliches und Gesundes.
Andererseits besteht auch die Möglichkeit einer Überreizung, Überforderung, Sexualisierung bis hin zur Traumatisierung wie beispielsweise bei sexuellem Missbrauch.
Es ist aus psychologischer Sicht nicht ersichtlich, wie das innerhalb einer Institution gewährleistet werden soll, indem man einen allgemeinen Rahmen in Gestalt eines separaten Raumes mit Regeln einrichtet. Hier besteht die Gefahr, dass ein spontan von innen heraus auftretender Prozess von außen aufgedrängt wird.
Wir wissen aus der psychologischen Forschung, dass das Setzen eines Rahmens einen Suggestivcharakter besitzt, der dazu auffordert, den Rahmen auch zu nutzen.
Das Vorhandensein eines Körpererkundungsraums vermittelt damit auch ein Gefühl der Erwartung, dass man da jetzt hereingehen und „Doktorspiele“ spielen soll. Während das für manche Kinder passen und gut sein mag, sind andere Kinder in ihrer Entwicklung eben anderweitig beschäftigt und könnten dort hingedrängt werden, obwohl das gerade nicht ihren Bedürfnissen entspricht.
Zentrale Institutionen für die psychosexuelle Entwicklung?
Körpererkundungsräume werfen auch die Frage auf, wer die Kinder dort im Zweifel beaufsichtigen soll? Lässt man die Kinder vollständig unbeaufsichtigt, besteht auch das Risiko von kindlich unbedarften Grenzverletzungen. Während die einen Kinder sich gut abgrenzen und diese Grenzen auch verteidigen können, sind andere Kinder temperaments- und entwicklungsbedingt dazu vielleicht nicht in der Lage. Auch kann man nicht sicher davon ausgehen, dass Kinder die Grenzen immer sicher einschätzen und einhalten können.
Es ist auch stets damit zu rechnen, dass in Kitas auch vereinzelt Kinder mit Missbrauchserfahrungen sein können. Im ungünstigen Fall wird diesen Kindern ein Schutzraum entzogen und sie könnten im Körpererkundungsraum sogar retraumatisiert werden.
Eine Beaufsichtigung durch die Erzieher ist aber ebenfalls heikel und bringt diese in eine Konfliktlage zwischen Raum geben und Aufsicht führen, ohne in Verdacht zu geraten, selbst Gefallen an den Spielen der Kinder zu haben. Insofern untergraben Körpererkundungsräume das Vertrauen zwischen Eltern und Erzieher.
Aus psychologischer Sicht sind Körpererkundungsräume nicht nötig. Kinder haben Gelegenheiten zur Körpererkundung im privaten Raum in der Regel zur Genüge. Dort können Eltern ihre Kinder verantwortlich und sensibel begleiten. Dazu ist Information und fachliche Aufklärung der Eltern hilfreich und sinnvoll.
Es benötigt keine zentrale Institution, die die psychosexuelle Entwicklung der Kinder beaufsichtigt und unterstützt. Dort, wo die Prozesse spontan auftreten, können die Erzieher aufgrund ihrer Fachkompetenz individuell reagieren.
Erzieher sollen auf zu Hause verweisen
Sind die Kinder in einer Kita außerdem dazu gezwungen, sich Kreativräume zum Rückzug zu suchen, sind dadurch situative Grenzen gesetzt, da sie früher oder später bemerkt werden. Die Erzieher sollten das durch den institutionell bedingten Rahmen in individualisierten Grenzen zulassen und dann frühzeitig sanft intervenieren und beispielsweise auf den privaten Raum zu Hause verweisen. Dabei wäre es wichtig, darauf zu achten, dass die Kinder nicht beschämt oder stigmatisiert werden.
Andererseits ist es nicht Aufgabe der Erzieher, die psychosexuelle Entwicklung der ihnen anvertrauten Kinder hinsichtlich der Körpererkundung in besonderem Maße zu fördern. Es gibt andere Bereiche wie beispielsweise die Frage nach der Entstehung von Babys oder den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen, denen man sich mit den Kindern gemeinsam widmen kann.
Zu Grenzüberschreitungen kann es zwischen Kindern bei „Doktorspielen“ immer kommen – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Körpererkundungsraums. Hier ist es wichtig, dass die Eltern sensibel mit dem Kind sprechen, aber auch Eltern und Erzieher kommunizieren, um den Vorfall aufzuarbeiten und den Schutz der Kinder zu gewährleisten. Es ist wichtig, auch den vermeintlichen „Tätern“ Verständnis entgegenzubringen und Stigmatisierungen zu vermeiden. Es handelt sich hier immerhin um Kinder in der Entwicklung.
Traumatisierungen können bei beiden betreffenden Seiten eine Rolle spielen: Sowohl die Unfähigkeit, Grenzen setzen zu können, als auch übermäßige Sexualisierung und Grenzüberschreitung können Hinweise darauf sein. In diesem Fall wäre auch eine kinderpsychotherapeutische Begleitung in Erwägung zu ziehen.
Ein Rat an die Eltern
Insgesamt ist anzuraten, dass Eltern aus psychologischer Sicht einer Einrichtung von gesonderten Körpererkundungsräumen nicht zustimmen, da sie weder nötig noch unbedingt förderlich sind. Außerdem bringen sie Risiken mit sich, die im institutionellen Rahmen nicht gut lösbar sind.
Eltern können sich bei Bedarf Unterstützung bei den zuständigen Jugendämtern holen. Notfalls ist ein Wechsel der Kita ebenfalls eine Option.
Erzieher sollten sich durchaus für die psychosexuelle Entwicklung ihrer anvertrauten Kinder sensibilisieren, sich dabei aber Konzepte und Themen, welche die kindliche Entwicklung übermäßig sexualisieren, nicht aufdrängen lassen. Der individualisierende Blick und eine sensible Begleitung sind elaborierten sexualpädagogischen Konzepten vorzuziehen.
Johannes Heim ist Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Dozent und Supervisor für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
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