Bundesregierung wusste schon im Juni 2022 von Sabotageplänen des ukrainischen Militärs – und schwieg

Laut „Washington Post“ wusste die Bundesregierung schon im Juni 2022 von Plänen des ukrainischen Militärs, die deutsch-russische Gaspipeline in der Ostsee zu sprengen. Die Informationen decken sich weitgehend mit dem Ermittlungsstand. Was nun?
Beim Treffen der G7 in Hiroschima begegnen sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine.
Archivbild: Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, und Bundeskanzler Olaf Scholz in Hiroschima. Scholz wusste nach Angaben der „Washington Post“ bereits im Juni 2022 von Anschlagsplänen des ukrainischen Militärs auf die Nord-Stream-Pipelines.Foto: Michael Kappeler/dpa
Von 7. Juni 2023

Die Bundesregierung wusste angeblich schon im Juni 2022 über einen geplanten Anschlag auf die Nord-Stream-Gaspipelines Bescheid. Das geht aus einem Bericht der amerikanischen Zeitung „Washington Post“ hervor. Die Story unterstützt zu weiten Teilen die jüngsten Rechercheergebnisse, nach denen die Saboteure im Dienste der ukrainischen Armee unterwegs gewesen sein könnten.

Falls sich der Verdacht weiter erhärten sollte, könnten die deutsch-ukrainischen Beziehungen einen herben Dämpfer erfahren: Ein weiteres Engagement der Bundesrepublik im Ukraine-Krieg stünde womöglich auf der Kippe. Denn laut „Washington Post“ sollen die Tatbeteiligten dem Armeechef Walerij Saluschnyj unterstanden haben, dem ranghöchsten Militär der Ukraine.

Außerdem könnte die Regierung Scholz in schwieriges Fahrwasser geraten, weil sie ihr Wissen nicht zur Gefahrenabwehr genutzt und Kiew auch nach der Sprengung unterstützt hatte. Dasselbe gilt für andere bereits im Juni 2022 unterrichtete NATO-Regierungen, die den Tatverdacht besonders anfangs in Richtung Russland gelenkt hatten – zum Beispiel die USA.

Selenskyj angeblich nicht informiert

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll angeblich nichts von den Sabotageplänen seines obersten Militärs gewusst haben. Er sei „bewusst“ nicht informiert worden, um eine ukrainische Tatbeteiligung „glaubhaft“ abstreiten zu können, heißt es in der „Welt“, die als erste Zeitung in Deutschland über die neuen Erkenntnisse berichtet hatte. Selenskyj selbst hatte bislang stets beteuert, nichts über die Hintergründe des historischen Sabotageakts zu wissen.

Auch jene ukrainischen Beamten, die eine Tatbeteiligung der Ukraine bisher ausgeschlossen hätten, zögen es nun vor, zu schweigen, schreibt die „Washington Post“. Das Weiße Haus und die CIA hätten eine Stellungnahme ebenfalls abgelehnt. Nach Angaben der „Tagesschau“  gibt es bisher auch keine Reaktion aus Russland. Eine Anfrage der Epoch Times an die Bundesregierung wurde bislang noch nicht beantwortet.

Die Existenz der Nord-Stream-Pipelines war Kiew stets ein Dorn im Auge, auch weil sie den drohenden Verlust eigener Gastransiteinnahmen und eine gewisse Abhängigkeit Deutschlands von Russland bedeutete.

Deutsche Geheimdienste schon im Juni 2022 im Bilde

Nach Angaben der „Post“ soll der amerikanische Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) bereits im Juni 2022 von einem europäischen Geheimdienst – einem „vertrauenswürdigen US-Partner“ – erfahren haben, dass sechs Taucher einer Spezialeinheit des ukrainischen Militärs den Auftrag erhalten hätten, die Erdgasröhren zwischen Russland und Deutschland zu zerstören. Die CIA habe daraufhin nicht nur die Regierung Joe Biden informiert, sondern auch Deutschland und andere Länder in Europa. Das hätten mehrere anonyme, „mit der Angelegenheit vertraute Beamte“ bestätigt, schreibt die „Post“.

Der Bericht des namentlich nicht genannten europäischen Geheimdienstes sei von Jack Teixeira, einem Mitglied der Air National Guard, in einem geschlossenen Chatraum der Online-Plattform „Discord“ geteilt worden. Teixeira wurde nach Informationen der „Tagesschau“ schon im April 2023 in den USA verhaftet und angeklagt, weil er auch vertrauliche Regierungsdokumente über den Ukraine-Krieg weitergegeben haben soll. Dennoch sei die Echtheit seines Nord-Stream-Dokuments bereits von „Beamten in mehreren Ländern“ bestätigt worden.

Der europäische Geheimdienst habe sich in seinem Überblickbericht auf eine „Person in der Ukraine“ als Quelle berufen. Um welchen Geheimdienst es sich handele, wollte die „Washington Post“ nicht veröffentlichen, um „Quellen und Operationen“ nicht zu gefährden.

Bisheriger Quellenverlauf laut „Washington Post“ im Juni 2022:

Anonyme Person aus der Ukraine –> anonymer europäischer Geheimdienst –> CIA /Jack Teixeira –> Geheimdienste/Regierungen der USA, Deutschlands und weiterer europäischer Länder

Kreml als Täter immer unwahrscheinlicher

Bereits im Dezember 2022 hätten Beamte der Biden-Regierung „insgeheim“ zumindest eingeräumt, dass es keine schlüssigen Beweise für eine Tatbeteiligung Moskaus gebe, so die „Washington Post“ (Bezahlschranke). Beamte aus verschiedenen Ländern Europas hätten zudem „stillschweigend angedeutet, dass die Ukraine hinter dem Angriff steckt“.

Der Ende April verbreitete Verdacht, dass militärische und zivile Forschungsschiffe aus Russland für die Nord-Stream-Sprengung verantwortlich oder beteiligt sein könnten, ließ sich bislang nicht erhärten.

Anschlagspläne womöglich verschoben

Wie die „Washington Post“ weiter berichtet, gehe aus dem Bericht des anonymen europäischen Geheimdienstes vom Juni 2022 hervor, dass „die ukrainische Militäroperation“ in der Ostsee „aus noch unklaren Gründen zunächst ‚auf Eis gelegt‘“ worden sei. Ursprünglich habe das Militär erst nach dem NATO-Manöver „BALTOPS“ zuschlagen wollen, das vom 5. bis 17. Juni 2022 vor Ort stattfand.

Und so kam es letztlich auch. Unabhängig davon, ob nun das ukrainische Militär dahintersteckt oder nicht: Die Sprengstoffanschläge gegen das wohl wichtigste deutsche Energie-Infrastrukturprojekt Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg fanden am 26. September 2022 statt. Damals waren die Röhren schon mit 300 Millionen Kubikmetern Erdgas gefüllt, die Regierung Scholz aber hatte ihre Inbetriebnahme zwei Tage vor Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 verhindert und nie wieder erteilt.

Details stimmen nicht überein

Die „Washington Post“ weist allerdings auch auf einige Widersprüche hin, die sich beim Vergleich des Geheimdienstpapiers mit dem bislang ermittelten, mutmaßlichen Tathergang ergeben: So sei in dem Papier nur von Nord Stream 1 als Zielobjekt die Rede gewesen, nicht aber von ihrem Pendant Nummer 2. Auch Rostock als mutmaßlicher Einschiffungsort der Saboteure sei nicht im Bericht erwähnt, dafür ein anderer Ort in Europa.

Es sei aber auch möglich, dass diese Details kurzfristig geändert worden seien, weil die Attentäter vom Kenntnisstand der Geheimdienste im Juni 2022 Wind bekommen hätten.

Ukraine-Spuren seit Anfang März in der Diskussion

Zuletzt hatten Journalisten von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ in Zusammenarbeit mit schwedischen, dänischen und polnischen Kollegen unter Verweis auf deutsche Ermittlungsbehörden berichtet, dass neue Täterspuren in die Ukraine führten. Demnach habe es eine mehrköpfige Gruppe gegeben, die mithilfe einer Charter-Segeljacht namens Andromeda von Rostock aus in See gestochen sei, um die Pipelines zu sprengen.

Deutsche Ermittler hätten alsbald einen Ukrainer im Alter von etwa 26 Jahren mit auffälligen Tattoos als einen der Tatverdächtigen ausgemacht. Nach Angaben einer Verwandten soll der unauffindbare Mann noch immer für das ukrainische Militär dienen. Nach Informationen von „Heise.de“  habe auch ein weiterer „Mann aus der Nähe von Odessa“ das Interesse der Ermittler geweckt.

Die Anmietung der Jacht soll mithilfe eines Reisebüros geschehen sein. Dabei soll es sich aber nur um eine Briefkastenfirma in Warschau handeln, deren „Präsidentin und Anteilseignerin“ eine „blondierte Frau mittleren Alters“ sei. Die Dame stamme aus dem Krim-Ort Kertsch und besitze einen russischen Pass. Womöglich sei sie nur die „Strohfrau“ gewesen.

Die Polizei in Brandenburg hatte zudem Ende Mai eine Wohnung in Frankfurt an der Oder durchsucht. Die Wohnungsinhaberin soll zwar nicht direkt an der Tat beteiligt gewesen sein, als ehemalige Lebensgefährtin eines der mutmaßlichen Attentäter aber womöglich mehr wissen. Agenturangaben zufolge beschlagnahmten die Beamten das Smartphone der Frau und nahmen DNA-Spuren eines offenbar gemeinsamen Kinds der Zeugin und des Tatverdächtigen, um sie mit Spuren von der Segeljacht Andromeda abzugleichen.

Cui bono?

Neben der Ukraine gibt es einige andere tatverdächtige Länder, die nach dem Motto „Cui bono“ („Wem nützt es?“) für die Anschläge verantwortlich sein könnten. Die USA, Norwegen, Schweden, Dänemark, Polen, Großbritannien und die baltischen Länder hätten durchaus entsprechende Interessen. Für manche gehört sogar Deutschland in den Kreis der Tatverdächtigen.

Ermittlungen dauern an – Berlin schweigt

Die Generalbundesanwaltschaft unter Peter Frank lehnt seit Monaten jede Stellungnahme ab, verweist stets auf die „laufenden Ermittlungen“. Die Bundesregierung schweigt ebenfalls: Die Sache liege in der Hand des Generalbundesanwalts, des Bundeskriminalamts, der Bundespolizei und der Geheimdienste.

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte am 24. Juni 2022 beim EU-Gipfel in Brüssel erklärt, dass er „Ende letzten Jahres“, also wohl im Dezember 2021, angefangen habe, über die „Konsequenzen des Krieges“ für die Energieversorgung nachzudenken. Womöglich war er da schon von den Sabotageplänen informiert gewesen.



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