Nord Stream: Verdacht gegen Ukrainer erhärtet sich – Bundesregierung unter Druck

Dass „Täter mit Verbindungen in die Ukraine“ für die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines verantwortlich sein könnten, erscheint deutschen Sicherheitskreisen immer wahrscheinlicher. Die Bundesregierung gerät allmählich in Zugzwang.
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Die Hinweise verdichten sich, dass die Saboteure der Nord-Stream-Gaspipelines im September 2022 von der Segeljacht „Andromeda“ aus operiert haben. Es soll sich um „Täter mit Verbindungen in die Ukraine“ handeln.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 28. August 2023


Die Hinweise verdichten sich, dass die Zerstörer der Nord-Stream-Gaspipelines nach ihrem Anschlag vom 26. September 2022 sehr wahrscheinlich in die Ukraine geflüchtet sind. „Technische Daten“ deuten darauf hin, dass sie sich sowohl vor als auch nach den Anschlägen in dem kriegsgebeutelten Land aufgehalten hätten, berichtet das ZDF unter Verweis auf „Sicherheitskreise“. Nach einem Artikel des Nachrichtensenders NTV soll es sich dabei um „Experten von Bundeskriminalamt und Bundespolizei“ handeln, die unter anderem „IP-Adressen“ nachverfolgt hätten.

Russland als Tatverdächtiger wohl vom Tisch

Der Verdacht, dass Russland etwas mit den Anschlägen zu tun haben könnte, scheint dagegen vom Tisch. „Ermittler“ könnten „eine russische Beteiligung weitestgehend ausschließen“, meldete NTV. Es gebe auch „keine Hinweise“ auf eine „False Flag“-Operation des Kreml, die von manchen Beobachtern in Erwägung gezogen worden war. Der Sender beruft sich auf aktuelle Untersuchungen eines gemeinsamen Rechercheteams des ZDF und des Nachrichtenmagazins „Spiegel“.

Sollte sich tatsächlich beweisen lassen, dass ein ukrainisches Spezialteam hinter den schwersten Anschlägen auf die deutsche Energie-Infrastruktur seit dem Zweiten Weltkrieg steckt, müsste das diplomatische Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Ukraine völlig neu überdacht werden – auch, was weitere Hilfen im Kampf gegen Russland betrifft. Deutschland unterstützt die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 mit Milliardenbeträgen für Waffen, Flüchtlingsversorgung und Liquidität.

Kein Schutz trotz Geheimdienstwarnungen eingeleitet

Zudem müsste sich die Bundesregierung erneut die Frage gefallen lassen, warum sie nicht genügend zum Schutz der deutsch-russischen Pipelines unternommen hatte: Nach Angaben von NTV hatten der „niederländische Militärgeheimdienst und die CIA“ Berlin nämlich bereits Monate vor den Explosionen „vor einem ukrainischen Sabotage-Kommando und genau dem Szenario gewarnt“.

Nach Angaben des ZDF hatte ein anonymer Informant den Niederländern von einer von „Ukrainern“ geplanten Pipeline-Attacke „Mitte Juni 2022, während einer NATO-Übung auf der Ostsee“ erzählt. Diese Informationen seien an die CIA und von dort aus weiter an den deutschen Geheimdienst BND geleitet worden. Nachdem im Juni 2022 aber nichts geschehen sei, habe die Bundesregierung „die Warnungen als nicht relevant eingeschätzt“, so NTV. Zwischenzeitlich hätten die USA der ukrainischen Regierung zudem „informell […] von möglichen Anschlagsplänen dringend abgeraten“.

Stegner: „Könnte politische Turbulenzen auslösen“

Ralf Stegner, als Bundestagsabgeordneter für die SPD Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium für die deutschen Geheimdienste, reagierte im ZDF auf den neuen Stand der Dinge:

Wenn das in die Ukraine führt und wenn dann auch noch Warnungen dabei waren von Nachrichtendiensten, dann ist das natürlich schon was, was schwierig ist und was natürlich auch politische Turbulenzen auslösen kann.“

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte laut ZDF zuletzt immer wieder „Transparenz und Aufklärung“ zu den Anschlägen versprochen. Erst im August habe er beteuert: „Wir versuchen, derjenigen, die das gemacht haben, habhaft zu werden und sie auch in Deutschland vor Gericht zu stellen“. Scholz habe zuvor „mehrfach mit Beratern“ diskutiert, was zu tun sei, falls es sich tatsächlich um „Täter mit Verbindungen in die Ukraine“ gehandelt habe.

In den ersten Monaten nach der Sprengung hatte es aus Kreisen der Bundesregierung immer wieder geheißen, dass „aus Gründen des Staatswohls“ nichts über den Ermittlungsstand an die Öffentlichkeit gelangen dürfe.

Kiew bestritt Tatbeteiligung – und schweigt

Wie das ZDF weiter berichtet, habe sich Scholz’ außenpolitischer Berater Jens Plötner erst im März 2023 telefonisch „mit dem Selenskyj-Vertrauten Andrij Yermak“ über die Angelegenheit ausgetauscht, nachdem die „New York Times“, die „Zeit“ und der RBB den Blick in Richtung Ukraine gelenkt hatten. Yermak habe eine wie auch immer geartete Beteiligung der ukrainischen Regierung ausgeschlossen.

Die „Washington Post“ hatte allerdings Anfang Juni gemeldet, dass die Tatbeteiligten zumindest dem ukrainischen Armeechef General Walerii Saluschny unterstanden hätten, dem ranghöchsten Militär der Ukraine. Selenskyj sei „bewusst“ nicht über die Operation informiert worden, um eine ukrainische Tatbeteiligung „glaubhaft“ abstreiten zu können, hatte die „Welt“ berichtet.

Nach Angaben des ZDF schweigt die ukrainische Regierung zum aktuellen Stand der Untersuchungen.

Faeser will Täter vor Gericht sehen

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) drängt unterdessen auf Aufklärung: „Wir müssen solche Verbrechen vor Gericht bringen“, sagte die aktuelle Spitzenkandidatin der hessischen SPD gegenüber dem „Spiegel“ (Bezahlschranke). Es gehe um das Vertrauen in den Rechtsstaat und auch um die Frage, wie die Bundesrepublik sich besser schützen könne. „Ich erhoffe mir, dass der Generalbundesanwalt genügend Anhaltspunkte findet, um die Täter anzuklagen“, so Faeser.

Aus dem Büro des Generalbundesanwalts Dr. Peter Frank ist allerdings noch immer keine offizielle Reaktion bekannt. Seine Behörde ermittelt seit knapp einem Jahr wegen des „Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion und verfassungsfeindlicher Sabotage“.

Generalbundesanwaltschaft hält Tatszenario für möglich

Frank und seine Mitarbeiter lehnen öffentliche Stellungnahmen in laufenden Ermittlungsverfahren generell ab. Das ZDF schreibt allerdings von einer „geheimen Sitzung“, die im Juni 2023 im Bundestag stattgefunden haben soll. Dabei hätten „Vertreter“ der Generalbundesanwaltschaft angegeben, dass „ein solch großer Anschlag“ auch von „einem Segelboot wie der ‚Andromeda‘“ ausgeführt werden könne.

Ein „mit den Vorgängen vertrauter Beamter“ habe jüngst gegenüber dem ZDF geäußert, dass mit einer raschen Aufklärung aller Umstände aber nicht zu rechnen sei: „Wir brauchen viel Geduld“.

Sechs Saboteure auf Ostseefahrt

Im Zentrum der aktuellen Erkenntnisse steht mehr denn je die 50-Fuß-Segeljacht „Andromeda“, berichtet das ZDF. Das Boot soll von sechs Saboteuren mit falschen Pässen einige Tage vor den Anschlägen in Rostock/Warnemünde gemietet worden sein. Nach Angaben des „Spiegel“ soll es sich um fünf Männer und eine Frau gehandelt haben. Sie könnten im September 2022 tagelang nahezu unbeobachtet über die Ostsee geschippert sein.

Nach Recherchen eines ZDF/„Spiegel“-Reporterteams könnte ihre Fahrt von Warnemünde aus zunächst zum Hafen Wiek auf Rügen geführt haben, um dort unauffällig Material aufzunehmen. Das sei vor Ort problemlos per Lieferwagen am Landesteg möglich. Knapp zehn Tage später habe das Boot womöglich die dänische Mini-Insel Christiansø nordöstlich von Bornholm angelaufen und sei wahrscheinlich eine Weile an den Tatorten gekreuzt.

Spiegel: Kein Job für Hobbysegler oder Amateurtaucher

Die „wahrscheinlichste Variante“ des Anschlagsszenarios sehe derzeit so aus, dass Taucher die jeweiligen Sprengladungen damals unbemerkt vom spärlichen Schiffsverkehr unter Wasser befestigt hätten, nachdem die Bootsbesatzung Bojen über den Koordinaten der Gasröhren gesetzt habe, berichtet der „Spiegel“ unter Berufung auf Expertenkreise. Solch eine Operation sei angesichts des rauen Wellengangs „weder etwas für Hobbysegler noch für Amateurtaucher“.

Auf dem Weg zu den Tatorten hätten die Attentäter ihre Fahrt wohl immer wieder an dänischen Häfen unterbrochen. Danach könnten sie das polnische Ostseebad Kolberg angelaufen haben und abermals über Wiek zurück nach Warnemünde gefahren sein. All dies sei wohl geschehen, bevor die Detonationen ausgelöst wurden. Die Täter hätten wahrscheinlich Zeitzünder benutzt, um den Sprengstoff Oktogon (HMX) zur Explosion zu bringen. Das ZDF/„Spiegel“-Team hatte die mutmaßliche Fahrt auf dem Originalschiff vor einigen Tagen nachgestellt (Video auf „Spiegel.de“).

Ohne „staatliche Quellen“ schwer denkbar

Nach Informationen des ZDF hatte das Bundeskriminalamt die „Andromeda“ im Januar 2023 untersuchen lassen. Dabei seien HMX-Spuren auf dem Kabinentisch gefunden worden. Nach Einschätzung des Marine-Experte Göran Swistek hätten etwa 40 Kilogramm HMX „pro Explosionsstelle“ ausgereicht, um die Pipelines zu sprengen.

Eine solch große Menge sei schwerlich zu beschaffen, ohne dass „staatliche Quellen“ oder „Militärbestände“ genutzt worden wären, so Swistek. Der ehemalige „Ex-Bundeswehr-Kampfschwimmer Jens Höner“ halte es für möglich, dass Taucher die Sprengladungen „am Meeresgrund“ mithilfe eines beschwerten Seiles („Shotline“) platziert haben könnten:

Der Taucher hält sich an der Shotline fest, taucht dann unten ab, legt die Sprengladung neben der Pipeline ab, geht wieder zum Grundtau zurück und macht dann seine Dekompression und geht wieder an Bord“ (Jens Höner über ein mögliches Sabotageszenario)

Cui bono?

Neben der Ukraine gibt es einige andere Länder, die getreu dem Motto „Cui bono“ („Wem nützt es?“) für die Anschläge verantwortlich oder mitbeteiligt sein könnten. Die USA, Norwegen, Schweden, Dänemark, Polen, Großbritannien und die baltischen Länder hätten durchaus entsprechende Interessen. Für manche gehört sogar Deutschland selbst in den Kreis der Tatverdächtigen.

Wie NTV berichtete, sei der Bundesnachrichtendienst (BND) im Juni 2022 übrigens darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass innerhalb der Ukraine „offenbar auch ein Anschlag auf die Turkstream-Gasleitung im Schwarzen Meer geplant“ gewesen sei. Durch die Turkstream-Röhren fließt Gas aus Russland in Richtung Türkei. Zu einem solchen Attentat ist es bislang aber nicht gekommen. Die Hintergründe sind unklar.



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