Verfassungsschutzchef über „Letzte Generation“: Straftäter ja, Extremisten nein

Thomas Haldenwang, der oberste Verfassungsschützer Deutschlands, hält die Protestler der „Letzten Generation“ nicht für extremistisch: Ihre Anhänger begingen zwar Straftaten, respektierten aber stets das System. Schon im November hatte Haldenwang zugegeben, „froh und glücklich“ über die Klimaschutzaktivisten zu sein.
Aktivisten der Umweltgruppe «Letzte Generation» haben sich auf dem Hamburger Gorch-Fock-Wall und wollen damit auf Klimakrise aufmerksam machen.
Aktivisten der „Letzten Generation" bei einer Störaktion in Hamburg (Archivbild) – für BfV-Chef Haldenwang nicht „extremistisch".Foto: Bodo Marks/Bodo Marks/dpa
Von 17. März 2023


Thomas Haldenwang (CDU), der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), sieht keinen Grund, die Aktivistengruppe „Letzte Generation“ als extremistisch zu betrachten, obwohl sie – auch seiner Meinung nach – seit Monaten Straftaten verübt. Zurzeit sehe „der Verfassungsschutz von Bund und Ländern keine hinreichenden Anhaltspunkte“ für einen Extremismusverdacht, erklärte Haldenwang im Gespräch mit dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (RND). Gleichwohl schaue der Verfassungsschutz „täglich genau hin, wie sich die Situation weiterentwickelt“, sagte Haldenwang.

Ob das Bundesamtes für Verfassungsschutz die „Letzte Generation“ schon vor Monaten zu einem „Prüffall“ erklärt habe, wie es das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ kürzlich berichtet hatte, wollte Haldenwang im RND-Gespräch weder bestätigen noch dementieren: Über Prüffälle dürfe er sich nicht öffentlich äußern. Allerdings sei mit dem Begriff „Prüffall“ nicht automatisch eine qualitative Einschätzung verbunden, erklärte Haldenwang. Es handele sich lediglich um „ein standardisiertes Verfahren“, das im BfV eingeleitet werden müsse, bevor das Amt überhaupt mit Prüfungen beginnen dürfe.

Haldenwang: „Froh und glücklich“ über Klima-Engagement

Haldenwang hatte sich zuletzt verständnisvoll gegenüber den Aktionen der „Letzten Generation“ gezeigt, auch wenn sich deren Straftaten „nicht wegdiskutieren“ ließen. Der oberste Verfassungsschützer drückte Mitte November 2022 bei einer Debatte im „Demokratie-Forum Hambacher Schloss“ seine Wertschätzung für die Klebestörer-Gruppierung aus: „Die sagen: ‚Hey Regierung, ihr habt so lange geschlafen, ihr müsst jetzt endlich mal was tun.‘ Also anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man die Funktionsträger zum Handeln auffordert.“

Er „erkenne jedenfalls gegenwärtig nicht, dass sich diese Gruppierung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richtet und insofern ist das kein Beobachtungsobjekt für den Verfassungsschutz“, stellte Haldenwang schon damals klar. Auch wenn die „Letzte Generation“ Straftaten begehe, die durchaus zu ahnden seien, mache sie das „nicht extremistisch“.

Er selbst sei „ganz froh und glücklich, dass inzwischen eben Jugendliche, junge Menschen sich auf einmal wieder für Politik interessieren und dafür interessieren, die Zustände im Land zu verbessern, und sich engagieren für ein elementares Thema wie Klimawandel, oder eben auch sich für diesen Klimaschutz einsetzen“. Er finde es zudem „ganz großartig“, wie sich beispielsweise die Gruppe „Fridays for Future […] durchgängig friedlich“ für ihre Ziele engagiere. (Video auf YouTube, Zitate ab ca. 71:00 Min.).

Anderen oppositionellen Gruppen in Deutschland steht Haldenwang offenbar deutlich weniger wohlwollend gegenüber: Bisher ist beispielsweise keine kritische Aussage von ihm zur massiven Polizeigewalt bekannt, die während der vergangenen drei Jahre gegen friedliche Demonstranten verübt worden war. (Video-Zusammenschnitt bei YouTube). Im Gegenteil hatte Haldenwang angesichts der „Querdenker“-Proteste eine „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ins Spiel gebracht. Unter Haldenwang wurde auch die gesamte AfD mitsamt ihrer Jugendorganisation als „Verdachtsfall“ eingestuft.

Stören, Besudeln, Einschüchtern

Die „Letzte Generation“ wurde Ende 2021 gegründet. Agenturangaben zufolge blockierten Mitglieder erstmals am 24. Januar 2022 eine Autobahnzufahrt, indem sie je eine Hand auf dem Asphalt festklebten. Seither versucht die Gruppe immer wieder, ihre Ziele mit Störaktionen in Stadien, Flughäfen, Parteizentralen oder Kraftwerken und mit Vandalismus gegen Kunstwerke durchzusetzen – nämlich den völligen Verzicht auf Erdöl, Erdgas und Kohle, außerdem Tempo 100 auf Autobahnen, 9-Euro-Tickets für den ÖPNV und Gesellschaftsräte.

Erst vor Kurzem begann die Gruppe, Bürgermeister brieflich mit Ultimaten unter Androhung einer „maximale[n] Störung der öffentlichen Ordnung“ unter Druck zu setzen. Die Stadtoberhäupter von Hannover und Marburg gaben offenbar bereits klein bei.

Die „Letzte Generation“ bildet ihre Anhänger professionell in eigenen „Protesttrainings“ aus. Wie der „Focus“ berichtete, gab oder gibt es auch interne Excel-Listen, nach denen die Mitglieder je nach Grad ihrer Opferbereitschaft eingeordnet werden. Finanziert wird das Ganze nach Recherchen des Magazins „Cicero“ auch von Gönnern aus der amerikanischen Oberschicht.

Erst jüngst sorgte ein Dresdener „Letzte Generation“-Mitglied für Aufsehen, als er sich dafür aussprach, für Straßenprotestaktionen auch Todesopfer in Kauf nehmen zu müssen. Kurz darauf übergossen die Aktivisten die Glasskulptur „Grundgesetz 49“ unweit des Bundestags mit schwarzer Farbe (Video auf YouTube).

Ganz so genau scheinen es einige der meist jungen „Aktivisten“ allerdings nicht mit ihrer Botschaft zu nehmen: Im Februar 2023 wurde bekannt, dass ein Pärchen wegen einer Urlaubsreise nach Bali seinen Gerichtstermin verpasst hatte.

Unterwanderung durch Linksextremisten?

Im Widerspruch zu Haldenwang sehen viele Politiker quer durch die Parteien inzwischen durchaus Grund zur Besorgnis. So bezeichnete beispielsweise Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) die Aktionen der „Klimaschützer“ laut „Welt“ als „brandgefährlich“. Der Hamburger AfD-Fraktions- und Landesvorsitzende Dirk Nockemann nannte die „Klimachaoten“ ebenfalls „gefährlich“ und  „extremistisch“.

Sein Parteikollege, der stellvertretende AfD-Bundessprecher Stephan Brandner, widersprach laut „Ad-Hoc-News.de“ der Einschätzung Haldenwangs: „Allein schon die Forderung nach Gesellschaftsräten ist ein Schritt in Richtung Abschaffung unserer parlamentarischen Demokratie und beweist, welche antidemokratischen Bestrebungen diese Gruppierung antreiben“. Er sei der Meinung, dass der Verfassungsschutz „gar kein Interesse daran hat, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, sondern viel mehr politisch im Sinne der Regierenden agiert“.

Die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) verurteilte nach einem Bericht des SWR die Störaktion am „Grundgesetz 49“-Denkmal – ebenso wie ihre Parteikollegen Danyal Bayaz und Fritz Kuhn. Auch Haldenwangs Chefin, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), forderte strafrechtliche Konsequenzen für den Vandalismus.

Eine Sprecherin ihres Ministeriums und Stephan Kramer (SPD), der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, halten zudem eine Unterwanderung der „Letzten Generation“ durch linksextreme Akteure für möglich. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte schon im November mit Blick auf die „Letzte Generation“ gefordert, dass die „Entstehung einer Klima-RAF“ verhindert werden müsse. Haldenwang nannte das im Hambacher Schloss „Nonsens“.

Vom Prüffall zum Beobachtungsfall

Das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Hauptsitz im Kölner Stadtteil Chorweiler muss sich an bestimmte Auflagen halten, um gegen Einzelpersonen oder Gruppen aktiv werden zu dürfen. Erklärt das BfV einen „Prüffall“, so darf es für seine Ermittlungen laut „Tagesschau“ ausschließlich auf öffentlich zugängliche Informationen zurückgreifen. Werden dabei „tatsächliche Anhaltspunkte“ gefunden, kann in einer nächsten Stufe der „Verdachtsfall“ erklärt werden. Dann darf das BfV „nachrichtendienstliche“ Ermittlungsmethoden anwenden – zum Beispiel „V-Leute anwerben, […]; Personen observieren oder unter bestimmten weiteren Bedingungen sogar die Telekommunikation überwachen“. Steigt ein Fall offiziell zum „Beobachtungsfall“ auf, weil das BfV eine „gesichert extremistische Bestrebung“ des oder der Überwachten feststellt, dürfen noch „schwerwiegendere Eingriffe in die Rechte der Betroffenen“ erfolgen.

Um „Extremismus“ handelt es sich nach einer Definition der „Bundeszentrale für politische Bildung“, wenn jemand „den demokratischen Verfassungsstaat ablehnt oder ihn einschränken will“ und „im Kern mit der Pluralität der Interessen, der Gewaltenteilung oder/und den Menschenrechten auf Kriegsfuß“ steht.

Haldenwang ersetzte Maaßen

Der Christdemokrat und Jurist Thomas Haldenwang, Jahrgang 1960, hatte im November 2018 seinen Parteikollegen Hans-Georg Maaßen als Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz abgelöst.

Maaßen war schon im Spätsommer desselben Jahres in Ungnade gefallen, nachdem er der Überzeugung mancher Spitzenpolitiker nicht gefolgt war, in Chemnitz habe es als Antwort auf eine Messerstecherei mit Todesfolge rechtsextremistische „Hetzjagden“ gegen Ausländer gegeben. Er wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Nachdem er im Januar 2023 zum Chef der „Werteunion“ gewählt wurde, droht Maaßen nun ein Parteiausschlussverfahren.



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