Gedenktag 4. Juni: Die hundert anderen Tian’anmen-Massaker von 1989

Die chinesischen Behörden schreiben die Geschichte seit Jahren systematisch um. Jedes Gedenken an den 4. Juni 1989, den Tag des Tian'anmen-Massakers in Peking, wird bestraft. In ganz China gingen zwischen April und Juni 1989 die Menschen auf die Straße.
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4. Juni1989, China, Peking: Ein Rikschafahrer fährt mit Hilfe von Menschen, die an der Straße standen, Verwundete in ein nahe gelegenes Krankenhaus. Soldaten gaben wieder Hunderte von Schüssen in die Menschenmengen ab, die sich vor dem Tiananmen Platz versammelt hatten.Foto: 64memo.com
Epoch Times1. Juni 2019

Karl Hutterer stand auf dem Dach seines Hotels und sah ungläubig zu, wie chinesische Polizisten im Schutz der Juni-Nacht friedliche Demonstranten mit Tränengas und Schlagstöcken traktierten. Der Tian’anmen-Platz war über 1800 Kilometer entfernt, doch in Chengdu, wo Hutterer lebte, spielten sich vor 30 Jahren ähnliche Szenen ab – ebenso wie in vielen weiteren Städten der Volksrepublik, wo der chinesische „Frühling“ ein gewaltsames Ende fand.

Peking war das Epizentrum der von Studenten angeführten Kundgebungen für demokratische Reformen. Nach wochenlangen friedlichen Protesten auf dem Tiananmen-Platz setzte die Staatsführung jedoch am 4. Juni 1989 Soldaten und Panzer gegen die Demonstranten ein; hunderte – nach einigen Schätzungen auch mehr als 1000 – Menschen starben.

Zwischen April und Juni 1989 gingen überall Menschen auf die Straße – nicht nur in Peking

Hutterers Bericht legt Zeugnis darüber ab, dass sich die Proteste und deren blutige Niederschlagung nicht auf Peking beschränkten. „Ich sah, wie sie Verletzte oder vielleicht auch Tote vor das Krankenhaus trugen“, erzählt er. Ein Chinese zeigte wild gestikulierend auf eine Stelle – der damals 49-jährige Anthropologe aus den USA begriff, dass dort ein Mensch totgeprügelt worden war.

Von Lanzhou im Nordwesten bis zur Provinz Guangdong im Süden gingen zwischen April und Juni 1989 Menschen auf die Straße, getrieben von wirtschaftlichen Sorgen, Ärger über die allgegenwärtige Korruption und die ständigen Eingriffe in ihr Leben sowie vom Wunsch nach mehr Demokratie. Aus durchgesickerten Dokumenten interner KP-Sitzungen geht hervor, dass sich die Proteste auf mehr als hundert Städte ausgeweitet hatten.

„Das war eine Volksbewegung“, berichtet die Menschenrechtsaktivistin Andrea Worden. Sie unterrichtete damals Englisch in Changsha, der Hauptstadt der Provinz Hunan, und wurde Zeugin der Massenproteste in der Provinz.

Behörden schreiben systematisch die Geschichte um, Gedenken an 4. Juni 1989 wird bestraft

Doch da es damals außerhalb Pekings keine ausländischen Medien gab, gehen die Geschichten über all die anderen „Tiananmen“ nach und nach verloren. Dafür sorgen schon die Behörden: Sie schreiben die Geschichte seit Jahren systematisch um, jedes Gedenken an den 4. Juni 1989 wird bestraft.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bevor die Erinnerung vollends verschwindet“, sagt Worden.

Als die Studenten in Peking in einen Hungerstreik traten, fanden sie in der Provinz große Unterstützung. Mindestens 20.000 Studenten, schätzt Worden, demonstrierten am 17. Mai 1989 in Changsha für die Hungerstreikenden. Wenige Tage später organisierten hunderte Fabrikarbeiter im nordostchinesischen Changchun einen Unterstützermarsch, wie sich der damalige Techniker des Autokonzerns FAW, Tang Yuanjun, erinnert.

Behörden löschen seither möglichst alle Online-Erwähnungen der Proteste

Als die Nachricht von der blutigen Niederschlagung der Tiananmen-Proteste die Provinz erreichte, gingen viele Menschen aus Solidarität spontan erneut auf die Straße. „In dieser Nacht schlief niemand von uns Studenten“, erzählt einer der damaligen Demonstranten von der Universität von Lanzhou, der lieber ungenannt bleiben will.

Die Wut über die Grausamkeit der Regierung habe ihnen „jegliche Angst genommen“, berichtet auch Ding Mao, einer der damaligen Studentenführer in Lanzhou. Gemeinsam mit anderen Studenten besetzte er eine Brücke über den Gelben Fluss, um ein Eingreifen der Armee zu verhindern. Tausende Bürger Lanzhous blockierten weitere Straßen, Brücken und Schienen.

Viele der Demonstranten mussten einen hohen Preis bezahlen. KFZ-Mechaniker Tang wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt und floh nach seiner vorzeitigen Entlassung in die USA. „Es war, als sei die Kulturrevolution zurückgekehrt“, erinnert sich der heute 62-Jährige. In Chengdu wurden Schätzungen zufolge bis zu 300 Menschen getötet.

Seither löschen die Behörden alle Online-Erwähnungen der Proteste. Im April erhielten vier Aktivisten aus Chengdu mehrjährige Haftstrafen, weil sie Alkohol mit Anspielungen auf den 4. Juni verkauft hatten.

Für die Regierung sei das Datum eine „hässliche Narbe, die sie unbedingt verbergen will“, sagt der ehemalige Student aus Lanzhou. Ihn und seine Generation aber werde sie ewig schmerzen. (afp)



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